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: Wild zur Toleranz entschlossen

Vom Film zum Happening: In „Paul“ (1974) des Hamburger Filmemachers Klaus Lemke verwischen die Grenzen

„Paul“, 1974 entstanden, kennt nicht seinesgleichen. Nicht im Werk des Regisseurs Klaus Lemke, der mit großer Klappe und an allen Fördergremien vorbei bis heute sein Ding macht. Und nicht in der Geschichte des deutschen Nachkriegskinos, in dem einer wie Paul Lyss eben nur einmal aufgetaucht ist.

Lemke, der mit „Opas Kino“ so wenig zu tun haben wollte wie mit den Prätentionen des „Neuen Deutschen Films“, hatte in den späten Sechzigern mit unerschrocken unprofessionellen und lustvoll kolportagehaften Genrefilmen begonnen („48 Stunden bis Acapulco“, „Negresco“). Dann aber entschloss er sich konsequent zum Verzicht auf die glatte Künstlichkeit gekonnten Schauspiels und drehte nur noch mit Laien, denen er in die Milieus ihres Alltags willig folgte. So war „Rocker“ entstanden, eine St.-Pauli-Studie um den gerade aus dem Knast entlassenen Rocker Gerd und seine Gang – alle gespielt (oder auch nicht gespielt) von den Rockern, die Klaus Lemke in St. Pauli fand.

Auf den ersten Blick funktioniert „Paul“ ganz ähnlich. Aber schon der Titel, der vom Fokus auf den Protagonisten zeugt, verdeutlicht den Unterschied. Paul Lyss hatte schon in „Rocker“ einen Mann gespielt, der stirbt und dessen Tod gerächt werden soll. Beide Filme beginnen sehr ähnlich: Nach Jahren kommt einer aus dem Knast und muss erleben, dass nichts mehr ist wie zuvor. Paul feiert und zecht mit den alten Freunden. Erst in letzter Sekunde merkt er, dass dies sein Henkersmahl werden soll. Er entkommt dem Killer, flieht vor den falschen Freunden und eilt ziellos durch Hamburgs Straßen.

Es ist eine große Unruhe – nicht nur in Pauls Bewegungen durch die Stadt, sondern auch in der Handkamera von Lothar E. Stickelbruck und im Schnitt von Peter Przygodda. Die Kamera klebt an Paul, als wollte sie ihn um keinen Preis verlieren.

Dann gelangt Paul durch ein Tor im Zaun in einen Garten, in einer besseren Gegend von Hamburg. Man sieht einen roten Teppich, ein herrschaftliches Haus, vier Männer auf dem Teppich auf dem Weg zum Haus. Wie ein wildes Tier fällt Paul diese Männer an, klammert sich an das Bein des einen und brüllt „Ich habe Hunger!“ Die Männer sind irritiert, verlieren aber nicht die Contenance. Sie laden ihn ein in die Villa, wo es zu essen gibt und schöne Frauen. Weder den Frauen noch dem Büfett gegenüber kennt Paul die geringsten Hemmungen. Er dringt ein in diese fremde Welt, in diese feine Gesellschaft, die gerade zu einer Kunst-Vernissage versammelt ist. Auf merkwürdige Weise jedoch will seine Transgression nicht gelingen; die bessere Gesellschaft ist zur Toleranz wild entschlossen.

Das wirklich Atemberaubende an diesen Szenen aber ist: Man sieht, dass hier tatsächlich einer aus der Rolle fällt. Das Verhalten von Paul Lyss war nicht geprobt, der Ablauf ganz anders geplant. Das Team, die Darsteller der Vernissage-Gesellschaft sind vom Toben des Darstellers wirklich verblüfft. Das teils ratlose, teils amüsierte Staunen in den Gesichtern der Anwesenden ist echt. Paul Lyss, ist zu lesen, war in dieser Szene (und im Grunde während der gesamten Dreharbeiten des Films) außer Kontrolle. Improvisation wäre dafür das falsche Wort – denn es impliziert einen Rahmen, der die Freiheit des Darstellers begrenzt. Für Paul Lyss aber gibt es in diesen Momenten weder Rahmen noch Grenze. Das Großartige ist nun, dass man dies auf den Bildern des Films genau sieht. Lemkes Genie – und das seines Kameramanns – bestand gerade darin, dem Kontrollverlust nicht etwa entgegenzuarbeiten, sondern ihn für den Film zu nutzen.

In einer Szene nimmt Paul den Hausherrn beiseite und nennt ihn Jimmy. Das ist der falsche Name, denn in der Fiktion des Films trägt die Figur den Namen Frank. Dieser Frank aber, gespielt von Friedhelm Lehmann, korrigiert ihn, nun selbst aus der Rolle fallend, indem er sagt: Ich heiße nicht Jimmy, ich heiße Friedhelm. In diesem Moment sind die Grenzen zwischen Fiktion und Realem endgültig verwischt. Der Darsteller verwechselt im Durcheinander seine Rolle mit sich selbst. Und Lemke korrigiert diese Szene nicht. Das bleibt alles drin, denn natürlich ist es gerade nicht wiederholbar. In diesem Moment wird das Spiel zum Happening und „Paul“, der Film, zum einzigartigen Dokument dieses Ereignisses. EKKEHARD KNÖRER

Die DVD ist nur beim Hamburger Onlineshop Nobistor (www.nobistor.net) erhältlich und kostet 19,90 Euro