: Der Druck aus der Vergangenheit
ERZÄHLUNGEN „Unsere Geschichte beginnt“: Tobias Wolffs virtuose Storys entlarven die Lebenslügen ihrer Figuren auf dezente Art und Weise
Gehen drei Männer gemeinsam auf die Jagd. Sie kennen sich wohl schon seit Längerem; zwischen ihnen herrscht ein seltsames Spannungsverhältnis. Einer von ihnen ist nicht dick, sondern fett. Das liegt an seinen Drüsen, so ist die gängige Sprachregelung. Ein anderer hat eine Affäre mit einem minderjährigen Kindermädchen. Ein-, zweimal droht die Situation schon zu eskalieren, bis dann wirklich etwas geschieht. Zum Schluss liegt ein Schwerverletzter auf der Ladefläche des Pick-up, und in einem Restaurant am Straßenrand kommt es zu einem ganz und gar merkwürdigen Geständnis: „Was ich da mit meinen Drüsen gesagt habe, das stimmt nicht. Die Wahrheit ist, ich schaufle mir das Zeug rein. Tag und Nacht. Unter der Dusche. Auf der Autobahn.“ Eine ganze Welt bricht da zusammen. Währenddessen stirbt wahrscheinlich draußen auf der Ladefläche ein Mensch. Denn die richtige Abzweigung zum Krankenhaus ist längst verpasst.
„Jäger im Schnee“ ist wohl die spektakulärste von 14 Erzählungen des 1945 geborenen US-Amerikaners Tobias Wolff, der an der Stanford University Kreatives Schreiben lehrt. Es sind ganz und gar großartige, leise Texte; klassische Short Storys, die eben nicht den Fehler machen, einen gefälligen Einstieg oder ein pointiertes Ende zu finden, sondern ein winziges und doch aussagekräftiges Segment aus dem Lebensstrom ihrer Figuren herausschneiden. Dieser Ausschnitt ist dennoch so gewählt, dass er eine Aussagekraft für das Große und Ganze erhält. Das muss man können. Wolff ist ein Könner; das hat er bereits mit seinem Roman „Alte Schule“ bewiesen, der 2005 auf Deutsch erschienen ist.
Müsste man ein Grundmotiv benennen, das die Erzählungen durchzieht, wäre es das der Täuschung, der Selbsttäuschung, der Lebenslüge. Und dem hin und wieder so abrupten wie schmerzhaften Herausfallen. Zum Beispiel Mary, die Protagonistin der ersten Erzählung, die es zu ihrem Lebensprinzip erhoben hat, ihre Meinung für sich zu behalten. Als Dozentin an einem unbedeutenden College hat sie es damit nicht zu Erfolg, aber zu einer gewissen Ungestörtheit gebracht. Bis sie von einer Kollegin als Marionette missbraucht wird und mit ihrem selbstverordneten Opportunismus bricht. Ob man das bereits als einen Wendepunkt bezeichnen darf? Als Leser wird man es nicht erfahren, weil es auf dem Papier nicht weitergeht, doch dass etwas geschehen ist, dass es von diesem Punkt an eine Richtungsänderung geben wird, darf man zumindest vermuten.
Angst, so scheint es, haben viele von Wolffs Figuren; eine Angst, die sie in die Lethargie treibt. Für ein kleines Stück privater Sicherheit sehen sie weg, schweigen sie, mauern sie sich ein, so wie das Ehepaar, das einen Konflikt scheut und deswegen nichts unternimmt. Nicht, wenn der Hund des Nachbarn regelmäßig das Blumenbeet ruiniert. Nicht, wenn der Nachbar ebendiesen Hund regelmäßig quält und verprügelt. Die Lügen dienen allerdings nicht nur dem reinen Selbstschutz, sondern entspringen, und da wird es beinahe dämonisch, zuweilen auch der puren Lust an der Bösartigkeit: Ein Sohn verbreitet in der gesamten Kleinstadt Unwahrheiten am laufenden Band, mündlich oder schriftlich: „Was Mutter zusetzte, war der letzte Absatz, wo ich erzählte, dass sie Blut gespuckt hätte, und die Ärzte wären nicht sicher, was mit ihr los sei, wir hofften aber das Beste. Das stimmte nicht. Mutter war stolz auf ihre körperliche Form und betrachtete sich als Pferd.“
Oft scheint es, als hätte sich ein Druck aus der Vergangenheit auf ungute Weise angestaut und entlade sich nun im erzählten Jetzt, auch zur Überraschung derer, die das die ganze Zeit ertragen haben. Auf dem Prüfstand stehen Familienverhältnisse, der eigene Beruf, die Sexualität, die Liebe. Und obwohl Tobias Wolff all seine Figuren, seien sie männlich oder weiblich, Kinder oder Erwachsene, mit der gleichen respektvollen Distanz betrachtet – die Erlösung schenkt er ihnen nicht. Das ist auch nicht seine Aufgabe. Stattdessen schreibt er Sätze wie diesen: „Meine Mutter las alles, außer Bücher.“ Großartig. CHRISTOPH SCHRÖDER
■ Tobias Wolff: „Unsere Geschichte beginnt“. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Berlin Verlag, Berlin 2011, 224 Seiten, 22 Euro