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Archiv-Artikel

„Islamistische Software hat ausgedient“

ARABELLION Der marokkanisch-französische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun über das Recht zum Tyrannenmord

Tahar Ben Jelloun

Marokko: Ben Jelloun, geboren 1944 in Fès, studierte Philosophie in Rabat. Nach den Studentenunruhen von 1965 war er 18 Monate in einem Militärcamp interniert.

Frankreich: 1971 reiste er wegen der Arabisierung des Philosophieunterrichts nach Paris aus. Promotion in Sozialpsychologie. 1987 erhielt er für „La Nuit sacrée“ („Die Nacht der Unschuld“) den Prix Goncourt. Tahar Ben Jelloun lebt heute in Paris und Tanger.

Auf Deutsch: Zahlreiche seiner Werke wurden ins Deutsche übersetzt. Darunter „Das Schweigen des Lichts“, „Papa, was ist der Islam?“, „Verlassen“ und „Die Früchte der Wut“. Sein neuestes Buch, „Arabischer Frühling“, ist eine Sammlung von Essays, Analysen und einer Erzählung mit dem Titel „Der Funke“ über den Freitod des Tunesiers Mohamed Bouazizi.

INTERVIEW RUDOLF BALMER

taz: Herr Ben Jelloun, in Ihrem Buch „Arabischer Frühling“ erzählen Sie die dramatische Geschichte des Tunesiers Mohamed Bouazizi. Dessen Selbstverbrennung wurde zum Auslöser der Revolution in Tunesien und leitete den „arabischen Frühling“ ein. Was hat diese Tragödie bewirkt?

Taher Ben Jelloun: Niemand hat vorhergesehen, was passiert ist. Wenn aber ein Volk lange genug unterdrückt wird und nichts mehr zu verlieren hat, kommt es zur Explosion. Aber ich wollte verstehen, was vorher passiert ist. Darum erzähle ich in meinem Buch die Geschichte von Mohamed Bouazizi: Wie kam dieser junge Mann, der eine Familie ernähren musste, dazu, den Freitod zu wählen, der nicht zur arabischen und muslimischen Tradition gehört. Ein Übermaß an Demütigungen hat für ihn das Fass zum Überlaufen gebracht. Und als dies bekannt wurde, haben alle sich betroffen gefühlt und sich mit ihm identifiziert. Fast unbewusst haben sie sich gesagt, das soll nicht umsonst geschehen sein. Ich meine, das war wie aus einer Art Überlebenstrieb, dass die Leute dann das Joch der Unterdrückung abwerfen wollten.

Dennoch wusste man, dass diese Länder seit Langem Pulverfässer glichen?

Das wusste man und hat in vielen Büchern und Artikeln geschrieben. Doch es hat nichts genutzt! Ich habe Tunesien unter Ben Ali besucht und war schockiert von diesem Polizeistaat, in dem jeder dem anderen misstraute. Ich hab auch darüber geschrieben. Ich hätte nicht gedacht, dass es in Tunesien beginnen würde. Ich dachte, dass Ägypten als Erstes explodieren würde.

Warum das?

Wenn man nach Kairo kam und diese Menschenmengen sah mit dieser schrecklichen Armut und zwei Millionen, die in einem Friedhof, in der „Stadt der Toten“ leben, sagte man sich: Das muss explodieren. Trotzdem war es dann das kleine Tunesien, das den Weg zeigte.

In Tunesien und Ägypten wurden die Diktaturen gestürzt. Die demokratische Volksbewegung ist damit nicht mehr aufzuhalten?

Natürlich gibt es viel Ungeduld. Die Leute erhoffen von Revolution, dass sie Arbeit bekommen oder von einem Tag auf den andern das Doppelte verdienen. Beunruhigend sind Vorfälle wie die Ermordung koptischer Christen in Ägypten oder die Zwischenfälle bei Demonstrationen in Tunesien. Aber solche Rückschläge sind nicht überraschend. Aber was auf Dauer stärker sein wird, das ist die zurückgewonnene Würde. Das ist wichtiger als der ganze Rest. Die Leute werden nie mehr hinnehmen, dass ein Beamter sie erniedrigt, foltert und mit dem Stiefel tritt.

Hat nicht die islamische Revolution im Iran im Gegenteil gezeigt, dass auf den Sturz eines Diktators neue Repressionsformen folgen können?

Im Fall des Iran kam effektiv nach dem Folterregime des Schahs das Folterregime der Ajatollahs. Ich möchte in Tunesien und Ägypten auch eher von Revolten und nicht von Revolutionen sprechen, das heißt, von einer spontanen, ein wenig irrationalen Explosion ohne eigentliches Programm. Mit ihrer neuen Verfassung werden die Tunesier und Ägypter ihr Programm erst gestalten, und das ist gut so. Dabei werden auch Fehler und Ungerechtigkeiten passieren, das ist unvermeidlich.

Werden die islamistischen Bewegungen oder andere Extremisten von dem derzeitigen Vakuum profitieren?

Nein, der Islamismus hat in diesen Revolten einen Rückschlag erlitten. Er ist nicht verschwunden. Aber er stand nicht hinter diesen Aufständen und war nicht tonangebend. Die Parolen der Islamisten interessierten niemanden. Das ist fundamental. Was bleibt ihnen nun zu tun? Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten werden sie sich in die demokratische Ordnung und Legalität einordnen müssen und zu Parteien werden wie andere auch. Sie werden die Menschen nicht weiter terrorisieren können, um sie mit Gewalt ins Jahr 500 zurückzuführen. Wie ich schon einmal sagte: Die islamistische Software hat ausgedient.

Ist das nicht zu optimistisch? Wie sieht es auf dem Land aus?

Zur städtischen jungen Internetgeneration möchte ich zunächst sagen: Manche von ihnen sind für die Revolte gestorben, das war kein Spiel. Die alten Parteien und Apparate haben den Anschluss zum Volk verpasst. In Libyen kämpfen auch Junge, die aus Nordamerika oder Europa in ihr Land zurückkehrten. Auch das ist etwas Neues für die arabische Welt: Mit dieser globalisierten Jugend kommt die Laizität.

Andere Junge suchen ihr Glück im Gegenteil: in einer Flucht nach Europa?

Das ist ein Drama. Manche ertrinken bei der Überfahrt. Europa sollte Tunesien und Ägypten sehr rasch mit Investitionen unterstützen. Die Kooperation muss intensiviert werden, um diesen Ländern Selbstvertrauen und den Jungen die Zuversicht zu geben, Arbeit zu finden.

In Libyen und Syrien setzen sich die alten Regimes mit skrupelloser Gewalt zur Wehr. Hat man Gaddafi unterschätzt? Brauchte es die Intervention von außen?

Die Intervention findet statt, aber sie ist partiell und kam spät. Wenn die UNO ihre Zustimmung früher gegeben hätte, wäre die Zahl der Repressionsopfer geringer geblieben. Gaddafi kämpft jetzt, um seinen Kopf zu retten. Er kann nirgendwohin flüchten. Er ist nicht von der Art, um wie Ben Ali in Saudi-Arabien um Asyl zu bitten. Er ist ein pathologischer Fall, er tötet Menschen ohne Gewissen, wie man Ameisen ausmerzt. Er muss gestoppt werden. Ich denke da an ein Kommando wie jenes, das bin Laden beseitigt hat. Ich fühle mich wie in einem schlechten Western, wo der Böse und Brutale triumphiert.

Dann müsste man auch in Syrien intervenieren?

Die UNO muss eine aktivere und dynamischere Rolle spielen. Ein Staat wie Syrien, der jeden Tag mit Panzern auf die Menschen schießen lässt, muss aus der Gemeinschaft der Vereinten Nationen ausgeschlossen und geächtet werden.

Völkerrechtlich ist eine Einmischung nicht evident.

Die Amerikaner haben sich auch nicht vorher bei der UNO die Erlaubnis eingeholt, bin Laden zu eliminieren und ins Meer zu werfen. Trotzdem sind wir alle erleichtert. Wenn morgen ein libysches Kommando Gaddafi tötet, wäre das sehr gut.

Mit dem Attentat von Marrakesch hat der islamistische Terror Marokko erreicht. Ändert bin Ladens Tod etwas an der Bedrohung?

Ich bin ziemlich sicher, dass der Typ, der die Bombe in dieses Café gelegt hat, nicht von bin Laden beauftragt war. Er hat vielleicht Hilfe von al-Qaida erhalten. Das war jemand, der das selbst geplant hat, um in Al-Qaida-Kreisen als Held zu gelten. So jemand ist ernsthaft psychisch gestört. Was für ein Programm soll das sein, Ausländer oder Einheimische zu töten, die Tee trinken?

Werden infolge des Attentats in Marokko die eingeleiteten Reformen verzögert und die Repression wird zunehmen?

Nein, das glaube ich nicht. In Marokko wurde seither gegen den Terrorismus und für die Fortsetzung der Reformen demonstriert. König Mohamed VI. wird nicht zurückkrebsen. Marokko bekommt eine neue Verfassung.

Wie erklären Sie es, dass Marokko im Vergleich zu Tunesien trotz mehrerer Demonstrationen so ruhig bleibt?

Mohamed VI. hat in den letzten zehn Jahren einiges bewegt. Er hat das Familiengesetz geändert und die Archive für die Opfer der Diktatur während der Herrschaft seines Vaters geöffnet. Und er hat die Infrastruktur ausgebaut. Natürlich kann auch er nicht die Arbeitslosigkeit wegzaubern. Aber er tut wirklich etwas und ist deshalb beliebt und populär.

Dennoch wird auch in Marokko demonstriert.

Die Jungen sind wachsam. Sie fordern schnellere Reformen, aber ihre Kundgebungen sind friedlich und verantwortungsbewusst.

Oft hört man: Der König soll herrschen, aber nicht regieren.

Eine konstitutionelle Monarchie wäre sicher nicht das Schlechteste. Das Komitee zur Ausarbeitung der neuen Verfassung wird Ende Juni seinen Entwurf vorlegen, danach werden Wahlen organisiert.

Als marokkanisch-französischer Doppelbürger, der auf beiden Seiten des Mittelmeers lebt: Was halten Sie von den innerfranzösischen Debatten um den Islam?

Man sollte aufhören, von Franzosen maghrebinischer Herkunft zu reden. Man ist entweder Franzose oder nicht. Frankreich muss es akzeptieren, dass seine Bevölkerung multikulturell ist und verschiedene Ursprünge hat. Das ist ein Reichtum. Die überwiegende Mehrheit der Muslime ist in Frankreich gut integriert und verlangt nichts anderes, als in Ruhe gelassen zu werden. Ich bleibe ein Marokkaner in Marokko, in Frankreich fühle ich mich als Franzose. Das ist ein Plus, mehr auch nicht.

Tahar Ben Jelloun: „Arabischer Frühling – Vom Wiedererlangen der arabischen Würde“. Berlin Verlag, Berlin 2011, 128 Seiten, 10 Euro