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Archiv-Artikel

Am Anfang war Marlene Dietrich

RÜCKBLICK Der 50. Historikertag ging in Göttingen zu Ende. Doch obwohl Emotionen und die Popkultur Themen waren – große Gefühle gab es nur am Rande

Und in Göttingen? Viel Frieden. Christopher Clark und Gerd Krumeich – schlafwandlerisch freundlich

In einer Stadt wie Göttingen fällt Universitäres insofern kaum auf, weil irgendwie alles in dieser putzig-schönen südniedersächsischen Provinzmetropole Akademia ist. Die Stadt wäre ohne ihre 1732 gegründete Hochschule unbedeutend. Und so fiel selbst der 50. Historikertag mit seiner viertausendköpfigen Schar an GeschichtswissenschaftlerInnen nur wenig auf.

Dass der Historikertag kaum öffentlich Wellen schlug, muss einem anderen Umstand zugerechnet werden: Streit gab es nur am Rande. Nicht wie Ende der Neunziger, als es um die Beschäftigung der historischen Zukunft mit sich selbst, mit ihrer Teilhabe am Nationalsozialismus ging. Leidenschaften, wütende Gefühle köchelten hoch. Aber nun in Göttingen? Viel Frieden. Christopher Clark und Gerd Krumeich zum Ersten Weltkrieg – schlafwandlerisch beinah ihr freundliches Sprechen miteinander. Oder die Sektion zum eben gestorbenen Hans-Ulrich Wehler – ehrenwert in jede Richtung.

Strukturell ist ein Historikertag nichts anderes als der Evangelische Kirchentag oder die Frankfurter Buchmesse. Branchenzirkel quasi, die sich einander vergewissern. Inklusive der Spiele um In- wie Exklusion: Wer ist nicht mehr dabei? Wer fehlt? Wer ist neu? Aber auch das Informelle kommt zur Geltung. Oder um es mit dem leider viel zu vergessenen Norbert Elias zu sagen: Es geht auch immer um Rituelles, Rituale. Das kann – und ist im Fall des Historikertages – etwas ziemlich Anregendes sein.

Treffen wie diese sind solche aus der heimatlichen Nachbarschaft heraus. Wer in welcher Weise wichtig ist – na klar, Christopher Clark, neuerdings Jörn Leonhard, wie seit langem Ute Frevert, Axel Schildt, Ulrich Herbert, Frank Bösch –, kann nur schwer eingeordnet werden. Nach Alter allein geht es nicht. Wer mit wem spricht, das wäre ein Indikator, wer zu welchem Empfang, zu welcher informellen Runde hinzugebeten wird. Dies hat viel mit Gefühlen zu tun, mit Emotionen, wie der aktuelle Schlager der Historikerzunft lautet: Es könnte ein Feld der Emotionsforschung der Gruppe um Ute Frevert am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin sein, einen Historikertag systemisch als Feld der Gefühle zu ermessen: Die Wissenschaftler hätten den Quellenfundus direkt vor den eigenen Köpfen.

Was an diesem Historikertag auffiel, war also nicht allein, dass eine Sektion auch zur Popmusik stattfand – wobei diese unter einer gewissen (heterosexuell bewirkten, also grundsätzlichen) Wahrnehmungsverengung litt, schließlich begann das Populare nicht erst mit Elvis Presley, sondern mindestens international mit Stars wie Billie Holiday, Edith Piaf oder Frank Sinatra, sondern deutscherseits auch mit Marlene Dietrich, Zarah Leander. Nein, die Distinktionsverschiebung war an einem Detail abzulesen. Dass nämlich schon die Eröffnung, bei der Bundespräsident Joachim Gauck ja eine feine Rede hielt, in eher informellem Rahmen stattfand. Wobei das nicht zutreffend genug formuliert ist.

Denn die Lokhalle war die Location – ein Gebäude, das selbst seine Historisierung im praktischen Sinne hinter sich hat: nicht abgerissen, aber umgewidmet zu einer hübschen, aber eben nicht auf antik getrimmten Örtlichkeit. Und: Die Namensschilder, die ein jeder nach der Akkreditierung erhielt, zeigten nur die Namen, nicht mehr die Titel der Personen, also Professor, Doktor o. Ä. Das muss für diese Wissenschaft, die doch bis in die Achtziger hinein sich bewusst als konservativ und würdig im Sinne von zeitgeistfern verstand, sich als politikberatend und staatszweckdienlich begriff, doch beinah als egalisierend entziffert werden. JAN FEDDERSEN