„Alles ist real“

KINO Ein besonderes Geflecht: Die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher spricht über ihren Film „Land der Wunder“

■ 1981 als Tochter eine Italienerin und eines Deutschen in Fiesole in Italien geboren, hatte in Turin Philosophie und Literatur studiert, bevor sie 2005 ins Filmfach wechselte. Zunächst an Dokumentarfilmprojekten beteiligt, entstand ihr erster Spielfilm „Corpo celeste“ 2011 und debütierte im selben Jahr in Cannes in der Sektion „Quinzaine des Réalisateurs“. „Land der Wunder“ („Le meraviglie“) wurde in diesem Jahr, ebenfalls in Cannes, mit den „Grand Prix“ ausgezeichnet. Er ist nach der „Palme d’Or“ der Preis mit dem größten Renommee.

INTERVIEW CAROLIN WEIDNER

taz: Frau Rohrwacher, Sie haben es sicher schon bemerkt: „Corpo celeste“ (2011), Ihr vorangegangener Film, handelt von einer 13-Jährigen namens Marta. „Le meraviglie“ („Land der Wunder“) nun ist ein Film über das Mädchen Gelsomina, das sich im selben Alter befindet.

Alice Rohrwacher: Reiner Zufall! Ich denke mir nicht Sachen wie: „Ich muss unbedingt Filme über 13-jährige Mädchen machen!“ Nein, das ist es nicht. Im Fall von „Land der Wunder“ war es tatsächlich so, dass wir uns letztlich mit der Wahl der Hauptdarstellerin [Anm. d. Red.: Maria Alexandra Lungu] auch für ihr Alter entschieden haben. Wir haben uns also angepasst. Sie hätte auch zehn sein können. Oder sechzehn. Andererseits – vielleicht ist es dann doch kein Zufall?

Wie meinen Sie das?

Wenn etwas Ähnliches zweimal hintereinander passiert, ist es möglicherweise nicht zufällig. Darüber nachzudenken lohnt sich, finde ich. Davon abgesehen ist dreizehn aber einfach ein interessantes Alter. Man ist irgendwie dazwischen, befindet sich auf einer Schwelle, Grenzen werden spürbar. Die Vergangenheit wirkt noch, doch die Zukunft und alles, was mit ihr zu tun hat, rückt in den Vordergrund. Man muss sich positionieren, sonst stirbt man, stirbt etwas. So geht es Gelsomina im Film. Sie muss sich entscheiden, wer sie sein möchte. Das ist ein wichtiges Alter. Aber es hat auch etwas sehr Symbolisches.

Und ist es auch ein wenig magisch? Im Film gibt es immer wieder Szenen, die ich als sehr besonders empfinde, die fast fantastisch sind. Etwa wenn Gelsomina und ihre jüngere Schwester Marinella von einem Lichtstrahl trinken, der durch einen Spalt in einen dunklen Raum fällt.

Im Film ist nichts magisch, alles ist real. Es findet also nichts Übernatürliches statt. Bezüglich dieses Grenzbereichs stimmt es aber schon. Ich mag ihn einfach sehr gern und bin überzeugt, dass genau dort die besten Dinge passieren. Auch die wahrhaftigsten. Wo wenig greifbar ist, wird es oft sehr wahr. Ein Moment der Wahrheit sozusagen.

Aber lediglich Gelsomina befindet sich in dieser Situation? Denn wirklich beruhigt wirkt im Film eigentlich kaum einer.

Die anderen sind einfach viel stärker in etwas involviert. Gelsominas Vater zum Beispiel, der den Hof mitsamt Schafen und vor allem den Bienen am Leben zu halten versucht, macht das auch aufgrund von Überzeugungen, die er vor langer Zeit gefasst hat. Gelten diese Überzeugungen auch für seine Tochter? Das ist eine Frage, die ich im Film stelle.

Ihr Vater hat als Imker gearbeitet, „Land der Wunder“ spielt in derselben Region zwischen Umbrien, Latium und der Toskana, aus der auch Sie kommen. Ihre Schwester Alba Rohrwacher haben Sie als Gelsominas Mutter besetzt.

Sie wollen auf die autobiografischen Parallelen hinaus. Es ist doch alles autobiografisch. Und dann wieder nichts. Leute beißen sich gern an diesen Details fest. Das deprimiert mich.

Aber es macht doch einen Unterschied, ob ich den Film-Vater dieselbe Profession ausüben lasse wie meinen eigenen?

Das finde ich nicht. Mag sein, dass mir die Figuren dadurch vertrauter sind. Im Fall von „Land der Wunder“ trifft das auch zu. Aber sie sind keine Kopien meiner Familie. Vielleicht könnte man es so betrachten: Mir sind alle am Dreh Beteiligten sehr ans Herz gewachsen. So sehr, dass ich familiäre Gefühle für sie empfinde. Wenn man will, ist der Film nun also doch autobiografisch. Das gefällt mir besser.

Ich habe gelesen, Versagen und Verzeihen seien für Sie die Schlüssel zum Film.

Ja, ich schätze, ich mag Menschen, die scheitern. Denn auch das ist wieder ein Moment der Bewusstwerdung. Sie merken, wer sie sind. Gelsominas Vater scheitert mit seinem Hof, weil bestimmte gesetzliche Standards nicht eingehalten werden. Er scheitert aber auch am Umgang mit seiner Tochter, die er verkennt. Denn vielleicht wird sie nicht seine Nachfolgerin, hat eine andere Sichtweise auf das Leben? Im Film sind trotzdem alle beisammen, arbeiten gemeinsam, verzeihen sich auch. Gelsomina gelingt das zum Beispiel.

Ihr gelingt es, ihrem Vater zu verzeihen?

Ja, diesem sehr barschen, nicht gerade vorzeigbaren Mann.

Und das macht für Sie auch einen guten Film aus, das solch eine Bewegung stattfinden kann?

■ Das Mädchen Gelsomina (Maria Alexandra Lungu) bewohnt mit ihrer Familie ein Bauernhaus in der Toskana. Ihr Vater ist in den 70er Jahren aus Deutschland hierher gekommen, um seinen Traum von der Selbstversorgerschaft zu verwirklichen. Es werden Bienen und Schafe gezüchtet, Gelsomina und ihre drei jüngeren Schwestern sind stark eingespannt. Als die TV-Sendung „Land der Wunder“ auf einer nahe gelegenen Insel Station macht, ist Gelsomina von der Fernseh-Fee Milly Catena (Monica Bellucci) wie verzaubert. Vielleicht können sie alle an dem TV-Wettbewerb, der die besten lokalen Produkte auszeichnet, teilnehmen und mit dem gewonnen Geld den Hof sanieren?

   ■ „Land der Wunder“. Regie: Alice Rohrwacher. Mit Monica Bellucci, Maria Alexandra Lungu u. a. Italien 2013, 110 Min.

Es ist zumindest ein wichtiger Bestandteil von diesem Film. Für mich ist ein Film gut, wenn er die Tür zu meiner Erinnerung passiert, eine persönliche Erfahrung wird. Aber es ist oft schwierig, diesen Prozess in seine Elemente zu zergliedern. Zergliederungen generell, das funktioniert für mich und auch bei „Land der Wunder“ überhaupt nicht.

Es stimmt, dass der Film einen sehr eigenen Eindruck hinterlässt. Er ist dicht gewoben, ist komplex und doch verbleibt man mit einem schwierig zu beschreibenden Gefühl.

Deswegen habe ich eigentlich ein Problem damit, über einzelne Aspekte zu sprechen. Verschiebt sich ein Element, wirkt sich das auch auf die anderen aus. Bezüglich der Figuren könnte etwa das ganze Beziehungsgeflecht kollabieren, wenn ich eine von ihnen einfach entferne oder sondiere. Betrachte ich jemanden wie Martin, den straffällig gewordenen Jungen, der zu Gelsominas Familie stößt, weil der Vater ihn gewissermaßen als männliches Gegengewicht in die Familie holt, dann ergibt seine Figur als einzelne betrachtet keinen Sinn. Im Zusammenspiel mit Gelsomina, dem Vater und der Freundin der Familie, Coco, aber durchaus. Ich bin mir tatsächlich selbst nicht komplett darüber im Klaren, wie das funktioniert. Aber es funktioniert. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass der Film sehr leicht zu zerstören ist. Er ist nicht gerade sehr solide.

Was er wiederum mit seinen Charakteren teilt.

Darum geht es mir. Auch sie sind fragil, haben Angst davor, zerstört zu werden. Aber diese Fragilität ist es auch, die sie stark macht. Wenn Sie mich explizit nach der Geschichte von Martin fragen, würde ich sagen: Sie ist ein Desaster. Es gibt viele Regisseure, die mit ihren Figuren eine Art emotionale Geiselnahme betreiben. Dinge sollen eindeutig sein, ein Hinweis wird lieber dreimal gegeben, als zu riskieren, dass er nicht verstanden werden könnte. Bei mir ist es hingegen so, dass mich die Unschärfen viel stärker interessieren.

Wie erarbeiten Sie dieses Geflecht?

Mit Karten. Für mich ist es wichtig, dass ich eine Struktur sehen kann. Die Art und Weise, wie man sich im Internet bewegt – ich öffne ein Fenster und dann noch dieses und dieses – da werde ich wahnsinnig. Ich vergesse sofort, was im letzten passiert ist. Also schätze ich es, wenn sich alles auf einer Fläche befindet. Für meine Filme erstelle ich Karten auf Transparentpapier.