: Der Aufstand der Kinderkrieger
Im Prenzlauer Berg ist ein Streit um die Grundschulplätze entbrannt. Die Zahl der Erstklässler explodiert, aber die Verwaltung hat nicht für ausreichende Kapazitäten in Wohnortnähe gesorgt. Jetzt sieht sie sich wütenden Eltern gegenüber, die keine Losverfahren akzeptieren wollen
Ein Viertel aller schulpflichtigen Kinder in den Kiezen um den Helmholtzplatz, die Winsstraße und den Kollwitzplatz können in diesem Jahr nicht von der für sie zuständigen Grundschule aufgenommen werden. An vier Schulen wurden die künftigen Erstklässler per Los ausgewählt und einer anderen, weiter entfernten Schule im Ortsteil Prenzlauer Berg zugewiesen. Im vergangenen Jahr kamen 309 Kinder in die ersten Klassen, dieses Jahr sind es hundert Kinder mehr, in fünf Jahren werden fast dreihundert hinzukommen. Im gesamten Bezirk Pankow werden es im Jahr 2012 dann eintausend Erstklässler zusätzlich sein. Das heißt: Es wird hier genügend Schüler geben, um jedes Jahr eine neue Grundschule mit mindestens drei Klassenzügen zu eröffnen. Doch die Beschlusslage im Bezirksamt sieht vor, frühestens in zwei Jahren eine neue Schule zur Verfügung zu stellen.TAZ
VON GRIT WEIRAUCH
In Prenzlauer Berg ist ein Verteilungskampf ausgebrochen. Das knappe Gut: Grundschulplätze. Weil zu viele Kinder in die Schulen des Stadtteils drängen, haben diese mit dem Segen des Bezirksamts ausgelost, welcher Erstklässler die Schule um die Ecke besuchen kann – und welcher einen kilometerlangen Schulweg antreten muss. Viele Eltern sind angesichts dieser Willkür der Verwaltung erbost.
Noch nie gab es so viele Erstklässler in Pankow wie in diesem Jahr. Und es werden immer mehr: In fünf Jahren kommen zu den heute 2.500 Erstklässlern über 1.000 hinzu. Ein Viertel aller neuen Grundschüler in den Kiezen um den Helmholtzplatz, den Kollwitzplatz und die Winsstraße kann bereits heute nicht mehr in die Schule des Einzugsbereichs gehen.
Die Unterausstattung mit Schulplätzen ist ein kolossales Versäumnis der Bezirksverwaltung. Statt neue Schulen zu eröffnen, hat sie in den vergangenen Jahren zwei geschlossen – wegen des Geburtenrückgangs in den 90ern, wegen des Drucks vom Land, die Ausgaben zu drosseln, und wegen der Annahme, dass viele Familien in den Speckgürtel nach Brandenburg auswandern würden. Eine fatale Fehlprognose: Stattdessen zogen die schicken, sanierten Kieze noch mehr junge Eltern an. Es ist, als hätten die Verantwortlichen nie mit eigenen Augen die überfüllten Spielplätze in Prenzlauer Berg gesehen, von denen das ganze Land seit Jahren spricht.
Es gab auch noch nie so viele Eltern, die aufbegehren. „So kann man mit Bürgern nicht umgehen“, sagt Andrea Hering, „ vor allem mit kleinen Bürgern.“ Ihre sechsjährige Tochter kommt nicht auf die Kollwitzschule im Prenzlauer Berg, obwohl die Wohnung der Herings in deren Einzugsbereich liegt. Auch die Kollwitzschule hat die Plätze in den ersten Klassen ausgelost, weil es zu viele Bewerber gab. Herings Tochter kam auf Position 34 von 38 Nachrückerplätzen – aussichtslos. Sie soll die Schule am Teutoburger Platz besuchen, statt 300 Metern muss sie nun sechs Jahre lang fast einen Kilometer zur Schule laufen und die mehrspurige Schönhauser Allee überqueren. „Die verfehlte Schulplanung kann doch nicht auf dem Rücken der Kleinsten ausgetragen werden“, sagt Hering. Per Eilverfahren hat die 38-jährige Selbstständige – wie hundert andere Eltern – Widerspruch gegen das Verfahren beim Schulamt eingelegt.
Auch Eva Schmitt hat Widerspruch eingelegt. Sie hat drei Kinder auf der Vorzeige-Grundschule im Kiez, der Thomas-Mann-Schule. Die Jüngste soll nun auf eine andere Schule gehen. Denn in den vergangenen Jahren wurde der Einzugsbereich mehrmals verkleinert, um den Andrang zu kompensieren. Schmitt wohnt zwar immer noch genauso nah, aber darf ihr Kind nicht mehr anmelden. Für die Mutter bedeutet das zwei verschiedene Schulwege und nächstes Jahr, wenn der Sohn auf die Oberschule kommt, sogar drei. „Wie soll ich das schaffen?“, fragt die Alleinerziehende.
„Es ist ein Skandal, dass es auf Landesebene für solche Fälle keine Geschwisterregelung gibt“, empört sich Andreas Otto, Abgeordneter der Grünen für den Wahlkreis Pankow. „Alle wünschen sich, dass die Familien mehr Kinder haben – und dann solche Erschwernisse.“ Der Bezirk habe bei der Schulplanung komplett versagt und sei nicht mehr in der Lage, einen adäquaten Schulplatz anzubieten.
Die Mütter Hering und Schmitt haben deswegen bereits eine Demonstration organisiert: Am vergangenen Mittwoch kamen rund fünfzig Eltern mit ihrem Nachwuchs auf dem Kollwitzplatz zusammen. Kinder kletterten auf dem Kollwitz-Denkmal herum und hielten von den Eltern gebastelte Plakate in die Fernsehkameras des rbb.
„Es gibt diesmal keine Lösung ohne Verlierer“, prophezeit Sigurt Vitols. Als Elternvertreter der Thomas-Mann-Schule kennt er das Problem seit Jahren. Aber das Ausmaß war noch nie so groß. Für das kommende Schuljahr hat seine Schule doppelt so viele Anmeldungen registriert wie 2006. Die Verlosung der 90 Schulplätze haben er und seine Kollegen boykottiert: Das Verfahren sei nicht rechtlich gesichert. Zumindest allen Geschwisterkindern sollte nachträglich Priorität eingeräumt und das Losverfahren neu aufgerollt werden, fordert Vitols. Sogar eine Kontrolle von Scheinanmeldungen würde er „zähneknirschend akzeptieren“, auch wenn er „im Prinzip dagegen“ ist.
Aber Vitols sagt auch Sätze wie „Die Eltern müssen sich mehr mit Alternativen beschäftigen“. Der könnte auch von Schulstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz (SPD) stammen. Sie verstehe zwar den Unmut der Eltern, deren Kinder nun längere Schulwege haben, sagt sie – aber da sei „leider nichts mehr zu machen“. Überhaupt gebe es genug Schulplätze im Prenzlauer Berg.
Das stimmt. Nur sind die Schulen oft weit entfernt, liegen in wenig attraktiven Gebieten – inmitten einer Neubausiedlung – oder haben zudem noch den Ruf, veraltete Ost-Lehrmethoden anzuwenden. So etwas spricht sich unter Eltern schnell herum, ob es nun gerechtfertigt ist oder nicht. Eine „gewisse Gruppendynamik unter Eltern“ nennt das die grüne Bezirksverordnete Maria Pfennig. Sie ist Vorsitzende des Schul- und Sport-Ausschusses der BVV. Die Eltern in Prenzlauer Berg seien eine besondere Klientel, sagt Pfennig, akademisch gebildet und besonders aktiv. Sie wüssten, wie man die Medien mobilisiert. „Mitbestimmung bedeutet nicht nur, zu sagen, was man sich wünscht, sondern auch mitzumachen“, fordert sie deshalb. Schließlich könnte eine aktive Elternschaft auch eine Schule zu mehr Qualität zwingen. „Eine Schule ist so gut, wie man sie macht“, findet Pfennig. Auch Vitols spricht von anspruchsvollen Eltern, die zunehmend nach reformpädagogisch orientierten Schulen verlangten.
Während Eltern und Oppositionspolitiker Druck machen, will der Bezirk erst einmal abwarten. Man befinde sich in einer „Zwischenphase“, es müsse gewartet werden, bis alle Widersprüche eingegangen seien, sagt Schulstadträtin Zürn-Kasztantowicz. Dann solle das Gericht entscheiden. Oder das Land. Für eine Geschwisterregelung will auch sie sich starkmachen, sogar im Abgeordnetenhaus, aber das könne man frühestens für 2008 angehen. Ihr im Bezirk seien die Hände gebunden, und auf unsicheres rechtliches Terrain werde sie sich nicht begeben.
Bis dahin denken sich die Eltern kreative Lösungen aus: Man könne sich auch Unterricht in Containern auf dem Schulhof vorstellen. Auch von der begrenzten Schülerzahl von maximal 28 könne man absehen. Andrea Hering hat sich unterdessen bei einer Privatschule kundig gemacht. Und auch auf der Kundgebung am Kollwitzplatz verteilte eine besonders rührige „Phorms“-Mitarbeiterin Werbekarten für ihre Privatschule. Kostenpunkt: 200 bis 800 Euro pro Monat – je nach gewünschter Förderung des Kindes.