: Ussama wackelt mit den Hüften
Fließende, couragierte Bilder aus einem vielgestaltigen Land. Der niederländisch-indonesische Filmemacher Leonard Retel Helmrich befasst sich mit den Umbrüchen in Indonesien. Das Westschweizer Festival Visions du Réel stellte jetzt sein Oeuvre vor
von CRISTINA NORD
Hoch spannt sich die Eisenbahnbrücke über das Tal. Neben den Schienen verläuft ein vielleicht 40 Zentimeter breiter Eisenträger. Darunter der Abgrund, ein Geländer gibt es nicht. Ein Mann geht auf dem schmalen Band, eine Kamera folgt ihm. Mal filmt sie von schräg oben, mal bewegt sie sich auf Höhe seiner Füße, mal schaut sie genau auf den Scheitel und in die Tiefe darunter. Ungerührt setzt der Mann Fuß vor Fuß, sein rotes Hemd kontrastiert mit den sattgrünen Feldern weit unten, die Kamera hat keine Scheu, immer neue, immer unwahrscheinlichere Positionen zu erproben. Das Publikum indes wird unruhig. Hörbar zieht es Luft durch die Zähne und lässt dann den Atem stocken. Zwar sitzt es im Gemeindesaal der Westschweizer Kleinstadt Nyon auf harten Stühlen und sicherem Grund, aber dem Schwindel der Filmbilder entkommt es nicht.
Die Brückensequenz stammt aus Leonard Retel Helmrichs Film „Stand van de maan“ („Der Stand des Mondes“, 2004), dem zweiten Teil einer Langzeitbeobachtung, in deren Mittelpunkt eine indonesische Familie steht. Indem er Rumidjah, die Söhne Dwi und Bakti und die Enkelin Tari begleitet, erfasst Retel Helmrich, wie sich das südostasiatische Land im vergangenen Jahrzehnt entwickelt hat: Die Entmachtung des Generals Suharto, die Abwertung der Rupie und die anschließenden Proteste, die Attentate auf Bali und in Jakarta – all dies spielt in den Film hinein. Der Sequenz auf der Brücke fällt dabei eine symbolische Funktion zu. Denn sie tritt an die Stelle, an der Bakti zum Islam konvertiert, weil er seine muslimische Freundin heiraten möchte. Doch der symbolische Gehalt macht niemals vergessen, wie eindringlich sich das Zusammenspiel von Abgrund, Himmel, rotem Hemd, Eisenträgern und Reisfeldern gestaltet. Was man sieht, ist mindestens ebenso präsent wie das, was es symbolisieren mag. Zugleich gibt die Sequenz Aufschluss darüber, wie virtuos Retel Helmrich das Genre des Dokumentarischen um Visionen, Träume und Fantasien erweitert.
Retel Helmrich, 1959 in den Niederlanden geboren, war Gast der eben in Nyon zu Ende gegangenen Visions du Réel. Ihm war eines der beiden Ateliers des Filmfestivals gewidmet – ein ausgiebiges Werkstattgespräch sowie eine Retrospektive seiner Arbeiten. Retel Helmrich entstammt einer Familie, wie sie nur der Kolonialismus hervorbringen kann. Sein Vater, Nachkomme holländischer Kolonialherren, war Reporter und Fotograf in Jakarta, bevor er nach Holland auswanderte, seine Mutter war Indonesierin. Seine älteren Geschwister kamen noch in Indonesien zur Welt; zu Hause sprach die Familie Holländisch und Indonesisch. In der Grundschule, sagt er, war es „ein bisschen peinlich“, weil er neben den holländischen indonesische Wörter verwendete. 1990 reiste er zum ersten Mal ins Land seiner Eltern, heute lebt er zur Hälfte in Jakarta, zur Hälfte in Holland und ist – wie Bakti in „Stand van de maan“ – seiner muslimischen Frau wegen zum Islam konvertiert. „Wenn ich in Amsterdam bin, fühle ich mich wie auf dem Campingplatz“, sagt er.
Wenn er filmt, ist Indonesien sein Sujet: zum Beispiel eine Koranschule in „Vlucht uit de hemel“ („Flucht aus dem Himmel“, 2003) oder die Familie von Rumidjah in „De Stand van de zon“ („Der Stand der Sonne“, 2001) und „Stand van de maan“.
In seiner jüngsten Arbeit, „Promised Paradise“ (2006), folgt er dem Puppenspieler und Rhapsoden Agus Nur Amal bei dessen Performances und Interventionen. Der Film macht sich die Chuzpe des Protagonisten zu eigen – etwa wenn der einen australischen Touristen, der eben mit einer Prostituierten angebandelt hat, in ein Gespräch verwickelt. Agus Nur Amal hält ein T-Shirt in die Luft, auf dem „Fuck terrorists“ steht, und fragt den Touristen, was er über Terroristen denkt. Der ruft „Yeah, fuck them“, woraufhin Agus Nur Amal klarstellt, dass „fuck“ auch „Sex haben“ heißt. Was, wenn dabei „Babyterroristen“ entstehen? Der Australier guckt konsterniert. In seinem Kasperletheater lässt Agus Nur Amal eine Ussama-Bin-Laden-Puppe auftreten, die mit den Hüften wackelt, als imitiere sie Elvis. „Promised Paradise“ befasst sich mit islamischem Fundamentalismus, ohne dass für schlichte Gewissheiten und Feindbilder Platz wäre.
In einer Schlüsselszene von „Promised Paradise“ verwischen die Grenzen zwischen Fake und Dokument. Agus Nur Amal ersteht auf einem Straßenmarkt eine DVD von Imam Samudra, einer der beiden Attentäter, die im Jahr 2002 eine Bombe in einer balinesische Diskothek detonieren ließen. Zugleich sucht er im Gefängnis, in dessen Todestrakt Samudra einsitzt, um ein Interview mit dem Attentäter an. Es dauert nicht lange, und dieses Interview findet statt. Samudra doziert von seiner Zelle aus, im Gegenschuss sieht man Agus Nur Amal, der im Singsang seine Fragen vorträgt. „Ich habe 14 Bücher gelesen“, sagt Samudra an einer Stelle, „ich weiß alles.“ Wenn dieser Mann gestikuliert, so tut er es mit erhobenem Zeigefinger, sein Blick ist stechend, als gäbe es eine Körpersprache der Selbstgerechten. In ein und demselben Bild sieht man Samudra und Agus Nur Amal nie. Marcy Goldberg, die im Gemeindesaal von Nyon das Gespräch mit Retel Helmrich moderiert, verweist auf die Theorien André Bazins: Wer im Kino eine Tigerjagd sieht, ohne dass sich Jäger und Tiger jemals in einer Einstellung befinden, sollte misstrauisch werden. Und so ist es auch in „Promised Paradise“. Am Ende des Interviews wird das Bild Samudras abgelöst vom Bild eines Monitors, auf dem Samudra zu sehen ist; anschließend sieht man eine Hand mit einer Fernbedienung, im nächsten Bild kommt die DVD aus dem DVD-Player heraus. Trotz dieser Distanzierung war es nicht möglich, „Promised Paradies“ bei einem Festival in Indonesien zu zeigen. Die Sequenz werbe für die Sache der Fundamentalisten, hieß es zur Begründung. Außer Acht geriet dabei, dass Retel Helmrich und Agus Nur Amal einen Weg finden, schalkhaft auf den Fundamentalismus zu reagieren. Sie verweigern sich dem heiligen Ernst, den Fundamentalisten unentwegt verlangen. Das Spiel, die affirmative Überbietung, die paradoxe Intervention sind valide Formen der Kritik.
Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Courage, die Retel Helmrich seinem Sujet entgegenbringt, sondern auch die Kameraarbeit, für die er in den meisten Fällen selbst verantwortlich zeichnet. „Die ganze Filmgrammatik beruht auf den Begrenzungen der Kamera.“ Sein Traum dagegen sei es, der Kamera „volle Bewegungsfreiheit“ zu geben. Das gelingt ihm mit überraschenden Konstruktionen, etwa mit einem aus einem Bambusrohr gefertigten Kran, bei dem die Kamera mit Hilfe von Schnüren bewegt wird. Oder mit einer am Modell der Steadycam angelehnten „Steady Wing“, die flüssig-gleitende Bilder ermöglicht. Ihr Bewegungsspielraum übersteigt den einer Handkamera, durch zwei Schienen werden zudem Wackeleffekte reduziert. Mit dieser Kamera kann Retel Helmrich im direkten Kontakt zu seinen Protagonisten agieren, zumal er nicht durch den Sucher schaut, sondern die Bilder intuitiv erfasst. „Rein körperlich gehöre ich in die Szene“, sagt er.