Esten stürzen „großen Bruder“ vom Sockel

Gewaltsame Ausschreitungen in Hauptstadt Tallinn, weil Regierung ein sowjetisches Ehrenmal heimlich abbauen lässt

STOCKHOLM taz ■ Ein Toter, 50 Verletzte und mindestens 300 Festnahmen brachten gestern die schwersten Unruhen in Estland seit der Unabhängigkeit 1991. Die Proteste hatten sich am Donnerstag an der Entfernung eines sowjetisches Ehrenmals aus der Innenstadt Tallinns entzündet. Laut AugenzeugInnen wurde unter Polizeischutz das Gelände abgesperrt und ein Zelt errichtet, um die 14 dort begrabenen russischen Soldaten zu exhumieren. Die Polizei soll dabei gewaltsam gegen Protestierende vorgegangen sein. Eine spontane Demonstration versammelte schließlich über 2.000 Personen. Die DemonstrantInnen wurden mit Tränengas und Gummigeschossen auseinandergetrieben. Daraufhin zog die Menge durch die Stadt und warf Steine in die Zentrale der Reformpartei von Ministerpräsident Andrus Ansip.

Das strittige Ehrenmal, ein zwei Meter hoher Bronzesoldat, war 1947 für die Gefallenen der Roten Armee bei der Befreiung Estlands von der Naziherrschaft errichtet worden. Seit Jahren verlangen nationalistische estnische Kreise, die Statue zu beseitigen. Die im März gewählte neue Rechtskoalition machte nun Ernst. Gestern Morgen stand der Sockel leer.

Russlands Außenminister Sergei Lawrow sagte gestern, die estnische Regierung habe auf die Gräber gespuckt. Laut einer Umfrage seien auch die meisten EstInnen für das Denkmal. Sogar Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves wurde mit der Aktion überfahren – er hatte ausdrücklich Bedenken angemeldet. Die russische Minderheit macht in Estland fast ein Drittel der Bevölkerung aus. REINHARD WOLFF