der 1. mai im rückblick : Vom politischen Aufruhr zum ritualisierten Ordnungskonflikt
Vier Männer, vier Meinungen zum 1. Mai in Kreuzberg. Das ist das Fazit der von der taz veranstalteten Podiumsdiskussion „Aber dennoch hat sich Bolle ...“. Sie fand am Freitagabend im Alevitischen Kulturzentrum statt. Der Ort war gut gewählt: Auf dem Podium saßen die Teilnehmer erwartungsvoll nebeneinander. Hinter ihnen hing ein Abendmahlbild. Die Apostel darauf tragen Turban und sind um den einen gruppiert, dessen Antlitz niemand kennt. Sowohl göttliche als auch menschliche Verständigung aber ist zuweilen schwierig. Der einen ätherische Botschaft ist der anderen Lautsprecheranlage. Sie funktionierte nicht. Erst als sich die Protagonisten an den Podiumsrand setzen und sich das Publikum um sie gruppierte, klappte es mit dem Gespräch.
Eigentlich hätte die Diskussion Kontroversen erwarten lassen, denn der Innensenator Ehrhard Körting war angekündigt. Er verkörpert die Staatsmacht. Und das ist, was auf dem alevitischen Abendmahlbild kein Gesicht hat. Kurz vor der Veranstaltung hat Körting abgesagt. So betonten die vier Übrigen das Trennende ihrer Überzeugungen.
Halis Sönmez war 20, als Bolle brannte. Ein Kreuzberger Kid. Damals steckte er mittendrin. Als Beobachter? Mitwisser? Mehr? Wie auch immer. Heute, 20 Jahre später, will der Mitorganisator des „Myfestes“, des Straßenfestes, mit dem die Bewohner zeigen, dass sie den Kiez nicht den Randalierern überlassen wollen, nur noch eines: keine sinnlose Zerstörung auf der Oranienstraße. „Es soll nicht brennen.“
Neben ihm sitzt Philipp Stein, der die Mayday-Parade mitorganisiert und das internationale Prekariat auffordert, das soziale Unrecht nicht länger hinzunehmen, sondern dagegen zu protestieren. Auch und insbesondere am 1. Mai. Er findet in jedem Aufruhr eine politische Note. Der Schriftsteller Raul Zelik wiederum leugnet seine Sympathie für die alten Mai-Krawalle ebenfalls nicht, langweilt sich allerdings, seit es um nichts mehr geht. Neben ihm sitzt der Bewegungsforscher Dieter Rucht, der in allen Protesten einen Sinn sucht. Es muss nicht sein eigener sein. „Autos anzünden ist nicht per se politisch“, meint er. Verbunden aber mit dem 1. Mai sei daraus der Kreuzberger Mythos geworden.
Gekonnt wurden daraufhin Differenzen ausgespielt: Stein: „Hungerrevolten sind politisch.“ Ruch: „Richtig, aber das, was am 1. Mai 1987 in Kreuzberg geschah, war keine Hungerrevolte.“ Die Kreuzberger hätten Grund gehabt, sich zu wehren, insistiert Stein. Stichwörter wie Migration, Gegenmacht, Kürzung der Sozialprogramme, G 8, Hartz IV fallen.
Um das Ganze auszuweiten, fragt der Moderator, Uwe Rada, nach der Rolle der Polizei. Früher hätte die Berliner Polizei Kräfte aus dem Bundesgebiet eingefahren, die wollten Helden sein, meint Sönmez. Heute sei die Berliner Polizei vernünftiger. „Das ist ein Witz“, widerspricht Zelik, die Polizeieinsätze waren in letzter Zeit genauso hart wie früher.
Rucht klärt auf: Seinen Studien zufolge hat sich die Polizei gemäßigt. Sein Exkurs über den 1. Mai in der Geschichte rundet die Lektion ab: „Viele Gesellschaften haben ritualisierte Ordnungskonflikte.“ In Berlin hat der 1. Mai diese Rolle bekommen. Man teste die Grenzen aus. Ob es dieses Jahr wieder so sein wird, das ist die große Frage, die auch nach der Diskussion offen bleibt. WALTRAUD SCHWAB