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Archiv-Artikel

Der lange Marsch der Flüchtlinge

MIGRATION Vor zwei Jahren besetzten Flüchtlinge den Oranienplatz. Was ist geblieben von ihrem Protest?

Chronologie des Protests

6. Oktober 2012: Ankunft von 150 Flüchtlingen aus ganz Deutschland am Oranienplatz. Bezirk duldet Platzbesetzung.

24. Oktober: 25 Iraner hungerstreiken am Brandenburger Tor.

8. Dezember: Flüchtlinge besetzen ehemalige Schule in Ohlauer Straße als Winterquartier. Bürgermeister Schulz gibt sein Okay.

Februar 2013: Bezirk will Camp dauerhaft dulden.

Juli: Gesprächsversuche der Flüchtlinge mit SenatspolitikerInnen scheitern.

November: 80 Lampedusa-Flüchtlinge ziehen ins Heim.

Januar 2014: Henkel setzt Ultimatum, will räumen lassen. Koalition streitet über Umgang mit Camp.

Februar: Verhandlungen der Flüchtlinge mit Integrationsenatorin Dilek Kolat (SPD).

18. März: Senat und Bezirk verkünden „Einigungspapier Oranienplatz“. Flüchtlinge uneins: viele vom Platz wollen unterschreiben, viele in der Schule nicht.

8. April: Chaos bei Platzräumung.

Juli: Die Einzelfallprüfungen beginnen. Bis Ende September wird zwei Anträgen auf Aufenthalt in Berlin stattgegeben.

25. August: Die ersten Flüchtlinge sollen Berlin verlassen.

24. September: Bezirk beschließt, Flüchtlinge müssen Schule räumen. (taz)

VON ALKE WIERTH UND SUSANNE MEMARNIA

Sie kamen aus ganz Deutschland, zu Fuß, mit dem Bus. Sie kamen, um in der Hauptstadt, dem Zentrum der Macht, zu demonstrieren – gegen Residenzpflicht und Arbeitsverbot, gegen Essenspakete und Heimleben, gegen Ungewissheit durch jahrelange Asylverfahren und Abschiebungen in Diktaturen und Kriege.

Gut 150 Asylbewerber ließen sich am 6. Oktober 2012 auf dem Kreuzberger Oranienplatz nieder. Sie wollten bleiben, bis sich die deutsche Asylpolitik von Grund auf geändert hätte. Bis zum Sommer 2014 wuchs die Bewegung auf fast 500 Menschen an.

Doch zwei Jahre später ist die Bilanz der Protestbewegung ernüchternd. Zwar wird die Gesetzesänderung, die eine ganz große Koalition aus CDU, SPD und Grünen gerade ausgerufen hat, beschönigend Asylkompromiss genannt. Doch die Lockerung von Residenzpflicht und Arbeitsverbot wird mit der faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl für Bürger mehrerer Länder erkauft. Und auch die angekündigten Verbesserungen sind, sagen viele Aktivisten und Experten, nicht der große Wurf: Weiterhin sollen Flüchtlinge nur an vorgegebenem Ort leben dürfen und 15 Monate lang Arbeitsplätze nur dann bekommen, wenn sich für diese kein Deutscher oder EU-Bürger finden lässt.

Auch die Flüchtlinge vom Oranienplatz haben keinen Grund zum Jubeln – im Gegenteil. „You can’t evict a movement“ – „Ihr könnt keine Bewegung ausweisen“ lautete ihr Motto. Doch zwei Jahre nach Beginn der Proteste in Berlin sieht das anders aus. Die Bewegung steht vor dem Aus. Ihre öffentlichkeitswirksame Zentrale ist geräumt, ihre Protagonisten leben verstreut in der ganzen Stadt. Manche warten noch auf die Entscheidung der Ausländerbehörde, ob sie bleiben dürfen, die meisten aber wurden bereits abgelehnt und aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Noch haben manche Unterschlupf in Kirchengemeinden oder bei Privatleuten gefunden, noch versuchen einige, sich in Projekten eine Perspektive aufzubauen. Doch als politische Bewegung, die den administrativen Umgang mit Flüchtlingen ändern wollte, ist der „refugee protest“ wohl gescheitert.

Gründe hat das viele: Nicht zuletzt hat der Senat, der anfangs alle Verhandlungen mit den Protestlern verweigerte, bald erkannt, dass nichts leichter ist, als eine Bewegung zu spalten, in der Menschen mit unterschiedlichsten Herkunftsländern und Fluchtgründen für politische Ziele, aber auch um ihr eigenes Überleben kämpfen. Dass unter den Flüchtlingen die Zahl derjenigen wuchs, die über Lampedusa nach Europa kamen und teils ein Bleiberecht in Italien haben, nutzte der Senat, um die Bewegung zu schwächen.

Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) spielte die Flüchtlinge ohne Papiere gegen die Lampedusa-Flüchtlinge aus und spaltete mit ihrem sogenannten Einigungspapier den Protest. Dass der Senat dann nicht einhielt, was er in dem Papier versprochen hatte, gab der Bewegung den Rest. Auch die abnehmende Unterstützung der Bevölkerung für die Besetzer in der Schule und auf dem Platz trug ihren Teil bei. Restriktive Flüchtlingspolitik ist eben immer noch ein Mittel, Wähler zu gewinnen.

Was bleibt? Auch wenn viele AktivistInnen heute selbst sagen, dass die Bewegung gescheitert ist, bleibt doch bei einigen ein Rest Optimismus. Wir haben die Menschen dazu gebracht, uns als handelnde Personen wahrzunehmen, sagen manche. Und Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsorganisationen, BürgerInnen starten neue Initiativen zur Unterstützung von Refugees.

Oft sind sie mit dem Thema allerdings überfordert. So wie der DGB, der am Donnerstag nach einer Woche Besetzung durch Flüchtlinge doch die Polizei rief, obwohl er das politische Anliegen unterstützt. Und auch die Kirchen können nicht ewig die Flüchtlinge unterbringen, die auf der Straße stehen.

Dass sich etwas ändern muss, ist inzwischen also vielen klar. Ob sich diese Erkenntnis irgendwann auch in der großen Politik niederschlagen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin: Die Flüchtlinge vom Oranienplatz haben etwas bewegt. Sie selbst haben mehrheitlich nichts davon.

Vier Flüchtlinge erzählen ihre Geschichte. SEITE 44/45