: Mein Vater, der Trinker
SUCHT Am Vatertag gehen Männer auf Sauftour. Ganz normal. Aber was, wenn der Vater Schnaps frühstückt? Für unsere Autorin ist auch das normal geworden. Sie beobachtet, wie der Held ihrer Kindheit im Alkohol ertrinkt. Helfen kann sie nicht
■ Der Vater: Seinen Namen können wir aus Rücksicht auf seine Privatsphäre nicht nennen. Seit einigen Jahren lebt er – Anfang sechzig, weit weg von seiner Frau – in Südeuropa. Er war im öffentlichen Dienst, ist Pensionär und Alkoholiker. Seine Familie sieht er an Feiertagen in Deutschland oder wenn seine Frau oder eines seiner Kinder ihn besuchen.
■ Das Problem: Männer sind anfälliger für Alkoholerkrankungen als Frauen. Sie vertragen mehr, sie trinken häufiger – die Wahrscheinlichkeit, abhängig zu werden, ist allein deshalb größer. Experten wie Hans-Jürgen Rumpf, Psychologe an der Lübecker Uni-Klinik, verweisen auch auf Rollenverhalten: Trinken gilt immer noch als männlich; Männer ertränken ihre Probleme eher in Alkohol, Frauen suchen systematischer nach Lösungen.
■ Die Erkenntnis: Wer bei einem Mitmenschen Alkoholabhängigkeit vermutet, sollte den Konsum genau beobachten. Wenn jemand jeden Tag Alkohol trinkt, ist das ein deutliches Warnzeichen. Versteckte Alkoholvorräte oder leere Flaschen deuten auf ein massives Alkoholproblem hin. Trinker reagieren oft aggressiv oder bagatellisieren, wenn man sie auf ihr Trinkverhalten anspricht.
■ Der Umgang: Alkoholabhängige sollte man „in netter, nicht wertender Form“ auf ihren Konsum ansprechen, rät Psychologe Rumpf – ohne sie anzugreifen oder ihr Verhalten zu missbilligen. Alkoholkranke sollte man nicht decken, indem man sie etwa beim Arbeitgeber als krank entschuldigt, wenn sie betrunken sind. „Die Betroffenen sollten die negativen Folgen ihres Verhaltens spüren“, sagt Rumpf.
VON JANINA SPERLING (TEXT) UND DOROTHEA HUBER (ILLUSTRATION)
Mein Vater ist vor Kurzem in ein anderes Land gezogen, wo die Sonne fast immer scheint, das Meer im Hafen vor sich hin gurgelt und der Winter nicht existiert. Wegen der Gesundheit, sagt er. Das Winterwetter zu Hause schlage ihm seit jeher auf das Gemüt, da habe er jetzt mit Anfang sechzig keine Lust mehr drauf.
Er wohnt in einer kleinen Siedlung, in einem Haus mit Pool, in seinem Garten blühen Olivenbäume. Die Häuser seiner Nachbarn sehen genauso aus. Viele sind aus ähnlichen Gründen hier: Arthritis, Asthma, Depressionen. Er hat mich eingeladen, um mir sein neues Zuhause zu zeigen, also fuhr ich hin.
Am Flughafen empfing mich ein alter Mann. Sein Körper war aufgedunsen, sein Gesicht durchzog ein Netz feiner roter Äderchen, seine Augen hatten rote Ränder. Auf dem Weg fluchte er über die anderen, die immer alles falsch machen. Über seinen Handwerker, der so viel trinkt. Und den Rest der ganzen bescheuerten Welt. Dann hielten wir am Supermarkt: Bier kaufen. Eine Dose trank er an der Kasse.
Mein Vater ist ein Trinker. Er ernährt sich von Flüssigkeit. Kaffee mit Schuss zum Frühstück, Bier zum Mittagessen, Rotwein am Abend. Dazu Vitaminpräparate, Pillen gegen den hohen Blutdruck und etwas gegen die Magenbeschwerden. Manchmal muss er auch nachts raus. Als ich in seinem Haus zu Besuch bin, höre ich ihn: Das Klicken der Tür, das Patschpatsch der nackten Füße auf den Fliesen. Ich höre, wie die Flaschen in der Kühlschranktür aneinanderschlagen, dann das Klack-Zisch vom Öffnen einer Dose. Das Schließen der Kühlschranktür, wenn das Gummi sich auf Plastik drückt. Dann lange Zeit nichts mehr. Am Morgen liegt eine weitere Bierdose im Mülleimer, neben all den anderen.
Früher war mein Vater ein ganzer Mann. Ich liebte ihn. Er konnte mir bei den Schulaufgaben helfen. Er machte Witze, die wir Mutter nicht erzählen durften. Mein Vater tat, was er wollte – ganz gleich, was andere davon hielten. Er lief herum in Pullis, die ihm zu klein waren, und Hosen voller Flecken. Es war ihm egal – Hauptsache bequem. Meine Mutter sagte oft, bevor wir zu Oma fuhren: „So kannst du doch nicht los! Zieh dir was anderes an!“ Sie bestand darauf, dass er vor dem Schlafengehen mit uns betete. Aber er dachte sich immer nur neue Reime aus und beendete sie mit „Amen“.
Meine Mutter hatte nie Zeit. Mein Vater war auch oft weg, aber wenn er anwesend war, war er ganz und gar da. Heute sehe ich ihn alle zwei oder drei Monate. Wir koexistieren. Er weiß, dass es mich gibt. Ich weiß, dass es ihn gibt. Punkt.
Für mich ist er ein Haufen Elend. Er wird an seinem Laster zugrunde gehen, wird sein Auto gegen den Baum setzen oder besoffen im Pool ersaufen – und ich schaue zu.
Wie ist es so weit gekommen? Ich bin aufgewachsen in einem Haus, in dem es normal war, dass im Keller, neben dem Weinregal, drei Kästen Bier stehen: Pils, Export und Starkbier oder Weihnachtsbier oder Radler oder was auch sonst zur Jahreszeit passte.
Ich dachte, das sei normal, sei bei jeder Familie so.
Abends legte mein Vater sich vor den Fernseher und rief: „Kinder, kann einer von euch mal in den Keller gehen und mir ein Bier holen?“
Ich dachte, das sei normal.
An den Wochenenden waren wir beim Handball, beim Tennis, beim Fußball. Die Männer standen an der Theke, bis sie nicht mehr stehen konnten. Dann setzten sie sich und spielten Skat, bis sie die Regeln selbst nicht mehr verstanden.
Ich dachte, auch das sei normal.
Lachhaft – Speisekammern ohne Bierkästen
Als ich anfing, bei meinen Freunden zu übernachten, fielen mir die leeren Speisekammern auf – ohne Bierkästen; die Väter, die für eine Flasche Rotwein eine ganze Woche brauchen. Ich lachte darüber und dachte, dass diese Väter keine „harten Kerle“ sind.
Alles fing vermutlich an, als mein Vater Anfang dreißig war, so alt wie ich heute. Meine Schwester war gerade geboren, das neue Haus gekauft, die Verbeamtung in der Tasche. Mein Vater arbeitete sein Leben lang als Naturwissenschaftler in einer Behörde. Er war drin im System. Der Kredit für das Haus war aufgenommen – hätte er je daran gedacht aufzuhören, die sichere Stelle zu verlassen, hätte er alles verloren. Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Leben kommt später.
Er gewöhnte sich an das Feierabendbier in der Stammkneipe, einer kleinen Spelunke, die auf dem Weg nach Hause lag. Der Wirt hatte einen typisch deutschen Namen und servierte typisch deutsches Essen: Hausmacher Wurstplatte, Rippchen und Sauerkraut. Der Qualm stand in dem kleinen Raum, der mit dunklem Holz getäfelt war und vollgestopft mit alten Fotos. Wenn mein Vater dort war, sprach er den regionalen Dialekt, obwohl er mit ihm gar nicht aufgewachsen war. Manchmal, wenn es zu spät wurde, rief meine Mutter dort an und verbot dem Wirt, meinem Vater weiter Bier auszuschenken. „Schick ihn heim zu mir“, sagte sie wütend.
Irgendwann begann das alles aus dem Ruder zu laufen. Ich weiß nicht, wann das war, ich war mit mir selbst beschäftigt, die Pubertät, die Uni, der Job, die eigene Familie. Man kehrt nur noch an Wochenenden nach Hause zurück, an den Feiertagen, an Geburtstagen, geht essen, lädt zum Essen ein, steht am Grill. Wo immer man hinkommt, es wird getrunken.
Sogar die Figuren in Märchen sind schon betrunken. In „Peterchens Mondfahrt“ zieht ein Maikäfer nach dem Tod seiner Frau alleine durch die Gegend und trinkt viel zu viele Vergissmeinnicht-Schnäpschen, für die ihn seine Frau geohrfeigt hätte. Ich erinnere mich auch an dieses Janosch-Gedicht:
Der Löwe Hans trank heut um vier mit seinem Freund ein Honigbier / um fünf sind die zwei Halunken betrunken in dem Fluss versunken. / Um sechs Uhr wurden sie gefangen und zum Trocknen aufgehangen.
Janosch war dem Alkohol verfallen, so erzählt er es in „Gastmahl of Gomera“. So war mein Vater nicht. Er ging immer noch arbeiten, und wenn er wusste, dass es eine wichtige Aufgabe zu erledigen gab, erledigte er sie. Erst viel später am Abend ist er dann betrunken versunken.
Das Gedicht steht in einem Kinderbuch, aber ich finde, es gehört dort nicht hin. Es ist doch so traurig! Wenn ich es meinem Sohn vorlese, lacht er immer. Er weiß nicht, was ein Alkoholiker ist. Er liebt seinen Opa, weil er so lustig ist, weil er so alberne Geschichten erzählt, von den Riesen, die nachts helfen, Hochhäuser zu bauen.
Mein Vater ist kein aggressiver Trinker, er ist sehr amüsant – jedenfalls für eine Weile. Ich habe viel mit ihm gelacht, meine Schwester hat es auch. Konfrontiert haben wir ihn selten. Wie auch? Er hat uns das Wort im Mund verdreht, uns des Realitätsverlustes bezichtigt. Sein Leben funktionierte. Jedenfalls für ihn. Nur zufrieden war er nie. Sein lahmes Beamtenleben ging ihm auf die Nerven, er hätte gern mehr seinen Kopf benutzt, als nur Anweisungen auszuführen.
Ich glaube, er begann aus Langeweile zu trinken, weniger aus Frust. Er war oft gelangweilt: von seinem Job, von seinen Freunden, von sich selbst. Wenn er mehr Antrieb gehabt hätte, hätte er etwas ändern können, aber zum Trinken braucht man keinen Antrieb und ändert doch etwas: seine Sicht auf das Leben. Eine schöne, betrunkene Illusion.
Ich weiß nicht, wann ich das erste Mal Verdacht schöpfte. Vielleicht war es, als mein Vater an einem ersten Mai vor zehn Jahren zum Trinken loszog und nicht mehr wiederkam. Keiner wusste, wo er war. Meine Mutter fuhr in der Gegend rum, suchte ihn. Ich habe keine Ahnung, wo sie ihn fand. Danach musste er für eine Zeit auf dem Sofa schlafen. Das Wohnzimmer roch in diesen Wochen nach abgestandener Luft, Aftershave und dem kalten Zigarettenrauch, der immer in seinen Kleidern hing.
Vor drei oder vier Jahren, da wohnte ich längst nicht mehr zu Hause, gab es dann diesen Moment, von dem an ich es nicht mehr ignorieren konnte: Ich war bei meinen Eltern zu Besuch und suchte etwas in Vaters Werkstatt. Ich fand versteckte Bierflaschen überall: Sie lagen in Schubladen unter den Sägen und standen im Regal hinter den Farbdosen. Die Kästen im Vorratsschrank hingegen sahen unberührt aus. „Der Arme“, dachte ich, „muss sich das Leben schöntrinken.“ Als müsste er sich jeden Tag eine neue Realität erschaffen. Angst hatte ich keine, eher Mitleid. Ich fand es traurig. Und ich war sauer auf unsere Gesellschaft und ihre Konventionen – Haus, Auto, Bausparvertrag, Gewissenhaftigkeit und Sicherheit über alles. Den Schein, der mehr zählt als das Sein – und ein bisschen auf meinen Vater, weil er nicht genug dagegen angekämpft hat.
Schwer zu merken, wenn er nur angetrunken ist
Ich glaube, es war dasselbe Jahr, in dem ich mit ihm in den Urlaub fuhr und ihn zwei Wochen lang betrunken sah. Da war ich schon weit über zwanzig Jahre alt. Ich hatte selten bemerkt, wie er betrunken wurde. Ich hatte immer das Gefühl, er sei ganz plötzlich besoffen. Vor dem Essen: nüchtern, eine Stunde später: unzurechnungsfähig. Vermutlich war er vor dem Essen gar nicht nüchtern, sondern schon sehr angetrunken. Es ist schwer zu merken, wenn er nur angetrunken ist. Er ist dann so normal. Er war immer ein Kindskopf mit einer lockeren Zunge. Die Flasche Rotwein zum Essen hat seine Zunge schwer werden lassen, die Lider hängen, das Gehirn zum Stillstand gebracht. Einmal habe ich ihm den Autoschlüssel abgenommen, er konnte sich schon nicht mehr wehren, er hatte noch ein „Aber dassss mussss nischh sein“ gelallt, gekichert, sich dann aber auf den Beifahrersitz gesetzt. Beim Aussteigen fiel er aus dem Auto, rappelte sich auf, stolperte über einen ein Meter hohen Pfosten. „So eine Scheiße“, schimpfte er, „der war gestern noch nicht hier.“ Manches klingt fast komisch, wenn man es aufschreibt. Ist es aber nicht.
Eine Zeit lang grübelte ich darüber nach, was zu tun sei: Was, wenn jemand von sich selbst sagt, er führe ein glückliches Leben, dabei aber im Alkohol badet? Mein Vater mag sich und seine Macken. Er mag seine Freunde, seine Kartenabende, seine Saufgelage – nur ich mag das alles nicht. Aber ich will nicht mit dem erhobenen Zeigefinger „Ändere dich!“ predigen. Die Einzige, die sich dann besser fühlen würde, wäre ich.
Leere Worte sind in verzweifelten Situationen gern gesehene Aktionen. Sucht ist Sucht. Sein Leben ist sein Leben. Ich bin nicht er. Ich bin nur seine Tochter, eine Frau Anfang dreißig, dem Kindsein entwachsen. Wir haben die Rollen getauscht: Er lebt, und ich mache mir Sorgen – dass er Schaden anrichtet, im Suff einen Unfall baut und jemanden mitreißt. Ich schaue meinem Vater beim Untergang zu. Und frage mich, warum so ein kluger Mensch so ein Idiot sein kann. Ein bisschen schämt er sich wohl, sonst hätte er nicht begonnen, die Dinge zu verschleiern, die Flaschen zu verstecken. Er ist ein Meister des Verschleierns. Er hat seine Tricks.
In seinem neuen Zuhause gibt es zwar keine Freunde mehr, keine Verwandten und Kollegen, die anklopfen, keine Enkelkinder, denen er erzählen muss, er sei krank, weil er einen Kater hat, der zwei Tage andauert und nur vom nächsten Rausch abgelöst wird.
Als ich komme, muss er sich etwas ausdenken. Ich weiß nicht, wie viele Dosen er jeden Tag trinkt. Mein Vater bringt täglich den Müll weg, raus zu der großen Tonne, wo die ganze Siedlung ihren Abfall entsorgt. Er kauft immer einen Pack normales Bier und einen Pack alkoholfreies Bier. Er sagt, dass alkoholfreie sei für ihn und das normale für den Handwerker, der ihm beim Renovieren des Hauses hilft. Der Handwerker leert ein Bier in der Mittagspause und eines nach Feierabend. „Ist nicht gut, wenn man schon während der Arbeitszeit so viel trinkt“, sagt er. Am Abend ist der Sechserpack leer. „Schau mal, der Handwerker säuft aber auch“, sagt mein Vater. „Ich muss schon wieder einkaufen für ihn.“ „Aber du hast ihm auch gut geholfen“, sage ich. Nein, nein, er habe doch sein alkoholfreies Bier, sagt er.
„Warum trinkst du so viel?“, frage ich am Tag vor meiner Abreise. „Man muss trinken, sonst dehydriert man“, sagt er. „Aber du weißt schon, dass du ein Problem mit Alkohol hast“, entgegne ich. „Nee, nur ohne“, sagt er und findet sich hinreißend witzig. So hat er immer reagiert, wenn ich ihn darauf angesprochen habe. Mit einem Witz. Irgendwann lässt man es dann. Weil es zwecklos ist.
Meine Mutter hat viel mit ihm geschimpft. Erst ein „Trink nicht so viel!“, dann „Du Säufer!“, dann hoffnungslos: „Du bist und bleibst ein altes Arschloch!“ Es sind nie Gespräche, die sie mit ihm führt; es ist, als wäre sie die Anklägerin in einem Gerichtssaal. Sie zählt seine Fehler auf, will dass er sich ändert. Schon immer. Er hat aufgehört, sich zu wehren. Nickte nur immer fein, wie wir Kinder damals. Die Liebe muss den beiden schon vor Jahren abhanden gekommen sein. Geschieden sind sie nicht, gehen aber meistens getrennte Wege.
Ich habe meinen Vater oft betrunken gesehen, genauso seine Freunde, meine Freunde, meine Tante und meinen Onkel, meine Schwester und sogar mal den Hund einer Bekannten. Trinken war nicht der Rede wert – es war ja ein besonderer Tag. Ich wusste nicht, dass bei meinem Vater irgendwann jeder Tag ein besonderer war.
Er zittert. Er schwitzt. Ein paar Tage schafft er es
Immer mal wieder hängt er sich zum Trocknen auf, zu Hause, im Urlaub, wenn er weiß, dass ein Familienausflug ansteht, wenn meine Mutter zu viel gemotzt hat, wenn das Herz zu sehr rast. Ein paar Tage schafft er es, glaube ich, um sich selbst zu beweisen, dass er ein harter Kerl ist, der die Kontrolle hat. Er zittert. Er schwitzt. Er stinkt. Er läuft im Haus auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Ich stelle mir vor, er suche sein Hirn. Er fängt Sätze an, die er nicht beendet. Er wird wütend, weil die Sonne scheint. Er wird wütend, weil es regnet. Er beginnt fünf Bücher auf einmal zu lesen. Er trifft keine Freunde, denn die stehen am Grill, sitzen in Kneipen oder auf dem Sportplatz. Wenn er sich etwas beweisen muss, ist er alleine. Wenn er trinkt, hat er Gesellschaft.
Aber das mit dem Beweisen ist nun ohnehin vorbei, denn er ist in dieses Land im Süden gezogen, weg vom alten Leben. Er trinkt Orangensaft zum Frühstück, und Saft zum Mittagessen. Dazu Kaffee mit Schuss und heimlich ein Bier. Ich kann es riechen, den Schnaps finde ich nicht. Er muss ihn versteckt haben. Im Nachtschrank oder irgendwo anders in seinem Zimmer. Da gehe ich nicht rein, ich will die Details seines Daseins nicht sehen.
Bei meinem Besuch spielen wir das normale Leben nach – bis nachmittags. Er kennt alle Bars der Umgebung. Voller Stolz hat er mich seinen Trinkkumpanen vorgestellt, die mir dann in allerfeinster Trinkermanier – „Madame sehen gut aus“ – versuchten den Hof zu machen. Es sind alte Herren mit ledriger Haut, ihre Zähne sind dunkelgelb, falls sie überhaupt vorhanden sind. Sie verstehen nicht, was „Nein“ heißt, halten sich für nett und liebenswert, riechen ihren schalen Atem nicht und ihren bitteren Schweiß, der sich in ihren billigen Hemden verfängt, die sie in ihre Hose stecken, mit dem Gürtel festzurren. Auf den ersten Blick sehen sie ordentlich aus, auf den zweiten erbärmlich. „Ach, die sind doch alle harmlos“, sagt mein Vater. „Aber eklig“, antworte ich, und er schaut mich an, als könne er nicht verstehen, warum ich Menschen, die wie er sind, abstoßend finde. Dann wischt er den Gedanken zur Seite und bestellt sich noch ein Bier.
Am nächsten Morgen muss er mich fragen, wie der Abend verlaufen sei. „Ich war verdammt besoffen“, sagt er und gießt sich ein Glas Saft zum Frühstück ein. Wir hatten eine stillschweigende Übereinkunft getroffen. Morgens durfte er Auto fahren, mittags musste ich. Ich kochte abends, er räumte morgens auf. Aufräumen muss sein. Der Kartoffelschäler gehört in die oberste Schublade neben die Messer. Die Fernbedienungen liegen in einer Reihe auf dem Fernseher.
So funktioniert sein Leben. Ich bin zu Besuch hier. Wenn er mich besucht, muss er sich erst zum Trocknen aufhängen. Bei mir gibt es nichts zu trinken. Doch dies ist sein Haus, es ist sein Leben mit seinen Regeln.
Mein Flug zurück ging morgens um elf. Ich musste mich selbst fahren. „Heute habe ich keine Lust“, hatte er gesagt, und ich roch den Schnaps. Draußen zogen die Olivenhaine vorbei. „Ist das Leben nicht schön?“, fragte er.
■ Janina Sperling, 32, ist freie Journalistin. Sie hat diesen Text unter Pseudonym geschrieben, um ihren Vater zu schützen