Ankara stellt Forderungen, statt den Kurden zu helfen

BÜNDNISSE Die türkische Passivität nutzt dem IS – und bedroht den Friedensprozess mit der PKK

ISTANBUL taz | Die Bilder sind irritierend und wecken den Zorn der Kurden in der Türkei und der Diaspora: Während in Kobani auf der syrischen Seite der Grenze heftig gekämpft wird, herrscht auf der türkischen gespenstische Ruhe. Drei Dörfer unmittelbar an der Grenze, Mürsitpinar, Kücük Kendirli und Büyük Kendirli, sind mittlerweile evakuiert worden. Dort stehen jetzt türkischen Panzer, die Kanonen auf Kobani gerichtet. Doch sie schießen nicht.

Ankaras Armee wartet ab. Selbst auf Mörsergranaten, die auf türkischem Gebiet landen, wird nicht geantwortet. Sieht so die Hilfe aus, die der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu den Kurden in Syrien angeblich versprochen hat? Doch die scheinbare Ruhe auf der türkischen Seite der Grenze trügt. Obwohl dort wie in der gesamten muslimischen Welt seit Samstag mit dem Opferfest die drei höchsten islamischen Feiertage begangen werden, laufen die politischen Drähte heiß.

Am Samstag war der Vorsitzende der syrischen Kurdenpartei DYP, Salih Muslim, überraschend in Ankara. Er sprach mit hochrangigen Vertretern des Geheimdienstes MIT und traf dann Davutoglu. Zwar gab es keine offizielle Erklärung, aber laut türkischen Medien wollte Muslim die Zusicherung, dass seine Milizen über die Türkei mit Waffen und Nachschub versorgt werden.

Davutoglu soll ihm gesagt haben, Ankara könne dem nur zustimmen, wenn die kurdischen „Volksmilizen“ sich dem Kommando der Freien Syrischen Armee unterstellen und sich so in die Opposition gegen das Assad-Regime einreihen. Solange sie dagegen mit Unterstützung der türkisch-kurdischen PKK allein für ihre Autonomiezone kämpfen, würde Ankara sie nicht unterstützen. Laut kurdischen Kreisen ist aber nicht ausgeschlossen, dass ein Korridor für humanitäre Hilfe geöffnet wird.

Ohne Nachschub aber werden die Kurden Kobani wohl nicht mehr lange halten können. Die Hilfe kann nur aus der Türkei kommen – oder aus der Luft. Am Mittwoch wird der US-Koordinator für den Anti-IS-Kampf, General John Allen, in Ankara erwartet. Dann dürfte über die Koordination von Boden- und Lufteinsätzen diskutiert werden. Ob es nach dem Zerwürfnis zwischen Präsident Recep Tayyip Erdogan und US-Vizepräsidenten Joe Biden noch zu einem abgestimmten Vorgehen kommen wird, ist derzeit ungewiss. Biden wirft der Türkei vor, sie hätte den IS in Syrien viel zu lange unterstützt.

Im schlimmsten Fall wartet die türkische Armee ab, bis die IS-Milizen Kobani erobert haben – und marschiert dann ein mit dem Ziel, eine von ihr kontrollierte Pufferzone zu errichten. Für diesen Fall hat die PKK angekündigt, den seit März 2013 geltenden Waffenstillstand zu beenden und die türkischen Einheiten erneut anzugreifen. Damit wäre der türkisch-kurdische Friedensprozess zu Ende. JG