Man leidet zwar, aber man lernt nicht

Man stirbt nicht mehr an seinen Überzeugungen, sondern weil man keine mehr hat: Geschichte auf dem Theater. Die Sehnsucht nach Positionsbeziehung beschäftigt die Regisseure, die zum Berliner Theatertreffen eingeladen sind, aber auch das Verrauschen von Haltung im Meer der Zeichen

Der schwärmerische Hugo weiß bis zum Ende nicht, wofür er einstehen soll

VON SIMONE KAEMPF

Wenn es heute an den Theatern um die Darstellung von Geschichte und Geschichtsbilder geht, kommt man ohne eines nicht aus: Distanz. Niemand glaubt mehr ernsthaft, dass historische Kostüme, Lanzen, Schwerter, Pickel den Weg zurück in die Vergangenheit weisen könnten. Falsche Nähe ist die zweitdümmste Lösung: Irgendwann begann man, die Macbeths, Richards, Wallensteins in eine moderne Umgebung zu stecken. Man spielte die Stoffe in Angestellten-Etagen, als ob sich die klassischen Tragödien täglich unter uns abspielten, und selten nur taten sie das auch.

Heute beginnt das Berliner Theatertreffen, und dort sind gleich drei Inszenierungen zu sehen, die beispielhaft einen Weg finden, die Distanz zur Geschichte nicht zu verneinen, sondern mit ihrer Hilfe symbolisch eine Position zu bestimmen und neu auszuloten, wie man aus der Vergangenheit für die Gegenwart erzählen kann. Sie stechen zwar auch durch radikale Spielweisen hervor; ihre Dringlichkeit liegt aber vor allem in den verhandelten Inhalten begründet. In Michael Thalheimers „Orestie“ (vom Deutschen Theater Berlin) fließt kübelweise Blut, was weder ein Schwelgen in Ekel ist noch als provokante Theatergeste wirkt. Der Pop in „Die Schmutzigen Hände“ und der Spaß in Nicolas Stemanns „Ulrike Maria Stuart“ stehen für mehr als nur generationstypische Oberflächen. Sie werden zu Mitteln, das Thema des politischen Extremismus zu verorten.

„Ulrike Maria Stuart“ vom Hamburger Thalia Theater ist Stemanns dritte Inszenierung eines Textes von Elfriede Jelinek. Die Herausforderung war noch einmal ungleich größer, das Textkonvolut in den Griff zu kriegen und sich nicht von den darin enthaltenen Positionen vereinnahmen zu lassen. Denn „Ulrike Maria Stuart“ ist weniger ein spielbares Theaterstück als eine 100-seitige Partitur aus Perspektiven, Stimmen, Zeiten. Seismografisch geschrieben zu einem Zeitpunkt, nicht lange her, als fast vergessen schien, dass man aus einem aufrichtigen Reden über die RAF nicht unbeschädigt herauskommt.

Stemann holt aus dem Text nicht die RAF-Geschichte auf die Bühne, sondern ihre Rezeption. Bilder werden gezeigt und wieder überschrieben. Wenn der Vorhang fällt, auf dem eines der bekannten Meinhof-Fahndungsfotos projiziert war, wird eine große Filmleinwand sichtbar. Der Trailer, der jetzt läuft, heißt „Der Untergang 2. Die letzten Tage von Stammheim proudly presented by Bernd Eichinger und Stefan Aust“ und zeigt zwei Leinwandheldinnen, Gudrun und Ulrike, mit Sonnenbrillen in schwarz-weißer Großaufnahme. Die Szene zielt nicht nur auf die mediale Verkitschung, die längst stattfindet, sondern auch darauf, dass der Geschichtsstoff zum Kapital der Unterhaltungsindustrie geworden ist.

Später schleppen sich die beiden Frauen als RAF-Veteraninnen mit Krückstock über die Bühne und posieren als Bond-Girls um den grau gewordenen Baader. Ein bisschen am Rad der Geschichte zu drehen und die Ikonen zombiehaft altern zu lassen, ist der beste Schutz vor ihrer Mystifizierung. Diese Lesart wirkt um einiges wirklichkeitsnäher als die Stimmungsmache, dass Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar die RAF neu gründen könnten.

Stemann, Jahrgang 1968, inszeniert aus der Sicht der Nachgeborenen-Generation. Die Alten kontrastieren in „Ulrike Maria Stuart“ mit den drei jungen Prinzen, gewissermaßen der Jugend von heute, die über die Ansichten von damals Witze reißen, im Schneidersitz auf dem Boden hocken und lieber „Untergang“ schauen, statt selbst zu handeln. Das Bild trifft eine Urangst, die auf die 68er-Linke abzielt: zu scheitern, weil niemand den Aufstand fortsetzen will. Man sollte das der ratlosen, politiküberdrüssigen Generation nicht unbedingt als Verdienst anrechnen. Aus der Inszenierung spricht selbstkritisch, was Stemann selbst über seine Altersklasse sagt: „Es fällt uns heute leicht, uns über die RAF lustig zu machen. Aber genauso wird man sich vielleicht in 30 Jahren über uns lustig machen, über unsere Bequemlichkeit, über unsere politsche Apathie.“

Bis dahin gilt erst einmal: Man stirbt nicht mehr an seinen Überzeugungen, sondern weil man keine hat. So ergeht es Hugo, der in Andreas Kriegenburgs Inszenierung von „Die Schmutzige Hände“ die Frage auszutragen hat, die „Ulrike Maria Stuart“ nur von Ferne behandelt: Darf man für eine bessere Zukunft einen Menschen umbringen? Andreas Kriegenburg hat lange gezögert, Sartres Stück zu inszenieren, und setzte die Idee am Thalia Theater erst um, als er das Gefühl hatte, „dass wir wieder in eine Zeit geraten, wo die Jugend gefährdet ist, sich zu radikalisieren“.

Aus dem Gefühl, es könnte etwas aus der Vergangenheit hochbrechen, ist aber kein pädagogisch-warnender, sondern ein spielerischer Abend entstanden. Vor der ausgeblichenen Kulisse des Kommunismus, in einem sepiafarbenen sozialistischen Prunksaal, ist der junge Bourgois Hugo in den Richtungskampf zweier rivalisierender Partei-Funktionäre geraten. Der lupenreine Genosse Louis, ein Realpolitiker erster Güte, überredet ihn zum Mord an einem Abweichler. Vor der Auseinandersetzung, welche Mittel welchen Zweck heiligen, flüchtet sich Hugo zur Gattin. Wenn er doch „mal reden will“, wartet Genossin Olga schon im Hintergrund.

Aber quatschen hilft auch hier nicht: Der schwärmerisch veranlagte, aber handlungsarme Hugo, in seiner Verunsicherung glänzend gespielt von Hans Löw, weiß bis zum Ende nicht, wofür er einstehen soll. Dass er damit zum Spielball eines wendigen Politapparats wird und gar nicht bemerkt, dass er keine Chance hat, macht ihn zur interessanten Zeitfigur. Wenn man von der Politik schon nicht mehr viel erwartet, hofft man im Grunde doch immer noch, dass eine vernunftstiftende wie demokratisierende Kraft in ihr steckt.

Das ist der Punkt, den auch Michael Thalheimer in Frage stellt. Er entwirft ein pessimistisches Bild für die Zeit heute. In seiner Inszenierung der „Orestie“, die als Schlüsselstück über die Entstehung von Demokratie gilt, hat er jenen dritten Teil gestrichen, in dem der Kreislauf ewiger Rachegesetze endlich durchbrochen wird. Gekürzt auf nicht mal zwei Stunden bleibt nicht Ausmaß, sondern Intensität im Gedächtnis: der kompromisslose Blutrausch, irgendwann sieht man nur noch rot. Im Kunstblut ertrinkt die Hoffnung, dass der Zahn-um-Zahn-Mechanismus unterbrochen wird.

Die blutverschmierten Körper hinterlassen ihre malerischen Spuren auf der Sperrholzwand, die vor die Bühne genagelt ist – mehr und mehr von Aufführung zu Aufführung. Auf dem schmalen Absatz hockt Klytaimnestra, hart geworden vom jahrelangen Warten. Die Schauspielerin Constanze Becker gießt sich einen Kübel Kunstblut über den Kopf, kippt rotzig eine Dose Bier und steckt sich die erste Zigarette an. Ihr Anfangsauftritt ist die eindringlichste Szene, die den Abend bis zum Schluss trägt und befeuert, wenn in den glitschigen Blutlachen kaum noch ein heiler Schritt getan werden kann. Der 40-köpfige Chor sitzt im Rang verteilt, klagt, bohrt, fragt und ruft mit donnernder Gewalt „Tun, leiden, lernen“. Das Motto, das Zeus den Menschen auferlegte, bleibt auf der Bühne unerhört: Man leidet, aber man lernt nicht. Der Schritt von der Barbarei in die Zivilisation wird nicht vollzogen. Damit hatte die Arbeit einen Haufen Kritiker am Hals, die darin das Ende der Erzählkultur und aller Zivilisation witterten.

Thalheimer selbst stellt gar nicht die Demokratie, sondern den Glauben an die Demokratie in Frage. Das ist der entscheidende Unterschied im Blick auf die Vergangenheit. Man kann, wie Thalheimer in seiner Inszenierung, durchaus bestreiten, dass Aufklärung automatisch im Sinn von lernen und besser machen funktioniert. Alle drei Regisseure arbeiten dennoch in diesem Sinne. Führen verschiedene Blickwinkel zusammen. Schauen, was passiert, wenn man Figuren unterschiedlicher Zeiten zusammenbringt. Sie gehören nicht zu denen, die historische Wahrheiten pachten und einmal beschlossene Bilder verteidigen. Das ist das Spannende an ihren Arbeiten.