: Ironie gegen zu viel Pathos
„Ein Schriftsteller sollte nicht in Volk und Nation, sondern in Subjekt und Prädikat denken.“ Die ungarische Kulturvermittlerin Éva Karádi über die literarische Szene Ungarns und die Frage nach dem kreativen Vergessen
ÉVA KARÁDI, geboren 1946 in Budapest, hat in Budapest Philosophie und Literatur studiert. Seit 1969 unterrichtet sie Philosophie an der Eotovos-Lorand-Universität Budapest. Ihr Schwerpunkt sind Ideengeschichte sowie die Berührungspunkte zwischen deutscher und ungarischer Kulturphilosophie. In ihrer Doktorarbeit widmete sie sich dem Budapester Lukács-Kreis und dem Kreis um Max Weber in Heidelberg. Seit 1991 ist die Philosophin Éva Karádi Redakteurin bei der ungarischen Ausgabe der Kulturzeitschrift Lettre International, seit 1995 ist sie deren Chefredakteurin. Als Kulturvermittlerin entwickelt und organisiert sie zahlreiche deutsch-ungarische Austauschprojekte, Tagungen und Veranstaltungen.
INTERVIEW AIMÉE TORRE BRONS
taz: Sie sind Chefredakteurin der ungarischen Ausgabe von Lettre International und engagieren sich als Kulturvermittlerin im Bereich des deutsch-ungarischen Kulturaustauschs. Was reizt Sie an dieser Verbindung?
Éva Karádi: Ich bin Philosophin und habe mich in diesem Zusammenhang sehr viel mit Georg Lukács und dem Max-Weber-Kreis in Heidelberg beschäftigt. Seit 15 Jahren arbeite ich nun für die ungarische Ausgabe von Lettre International. Das ist eine sehr gute Möglichkeit, Literatur und Philosophie miteinander zu verbinden.
Gibt es momentan ein Thema, das die ungarischen Autoren besonders stark beschäftigt?
Nach der Wende 1989 erwarteten in Ungarn erst einmal alle, es würde nun eine intensive Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit stattfinden. Stattdessen aber haben sich viele große Schriftsteller mit ganz anderen Themen beschäftigt. In dieser Hinsicht wurde oft Péter Esterházy zitiert: „Ein Schriftsteller sollte nicht in Volk und Nation, sondern in Subjekt und Prädikat denken.“ Fragen der Sprache interessierten die Autoren erst einmal viel mehr. Man kann dies als eine Verweigerungsreaktion der Schriftsteller interpretieren: Sie waren es müde, ihre Kunst immer nur als eine gemeinsame politische Sache zu verstehen. Nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1989 sollte Politik wieder von den Politikern und Literatur von den Literaten gemacht werden. Es gab zwar einen Trend, historische Themen aufzugreifen, man ging jedoch meist weit in die Geschichte zurück.
Gab es Parallelen zu den Entwicklungen in Deutschland, zum Beispiel in Bezug auf die Frage nach den persönlichen Verstrickungen in eine Diktatur?
Als wir von den Stasi-Geschichten hörten, dachten wir, dass uns dies nicht betreffen würde, da wir ja in einer recht soften Diktatur gelebt hatten. Interessanterweise sind diese Probleme erst vor ein paar Jahren an die Oberfläche getreten, als nämlich herauskam, dass der sehr bekannte Autor Sándor Tar für den Geheimdienst gearbeitet hat. Natürlich handelte er aus einer persönlichen Notlage heraus, er wurde erpresst, aber bis dato galt immer, dass der Autor moralisch unantastbar sei. Für die Öffentlichkeit war dies ein Schock. Es folgten weitere Enthüllungen: Auch István Szabó, Filmemacher und Oscar-Preisträger, war verstrickt. Es gibt ein deutsch-ungarisches Projekt, das sich im Rahmen einer Schriftstellerwerkstatt mit dem „kreativen Vergessen“ auseinandersetzt. Dabei geht es um die Frage, ob und wie weit man sich an alles erinnern muss oder ob man sich nur mit der Gegenwart und der Zukunft beschäftigen sollte oder ob es nicht überzeugender sein kann, wenn man sich die Vergangenheit kreativ erschafft.
Welche Orte sollte ein Literaturliebhaber in Ungarn besuchen, um der ungarischen Literatur auf die Spur zu kommen?
Sicher sind es die Kaffeehäuser in Budapest, in denen der literarische Geist noch zu spüren ist, aber auch das Literaturmuseum Petöfi. Dort kann man zurzeit eine Ausstellung besuchen, die sich der Stadt Berlin als künstlerischem Zentrum, als wichtiger Koordinate für viele ungarische Autoren widmet. Darüber hinaus gibt es in Budapest natürlich auch kontinuierliche Ereignisse wie das Buchfestival, das immer im April stattfindet, oder im Juni die Buchwoche, die open air veranstaltet wird und bei der die ganze Stadt zu einer öffentlichen Bühne für die ungarische Literatur wird. Es gibt auf der Buda-Seite bei der Petöfi-Brücke das Kulturzentrum A38, ein Schiff, das an der Donau vor Anker liegt. Jüngst hat sich auch eine Szene von jungen Leuten gebildet, die Hinterhöfe leerstehender Häuser bespielt. Da gibt es dann keine Probleme mit der Lärmbelästigung.
Der magische Realismus hat anscheinend einen großen Einfluss auf hiesige Autoren. Glauben Sie, dass das Leben in einer Diktatur solche Literaturformen besonders befördert?
Einfacher Realismus wäre vielleicht zu platt, man erwartet von der Literatur eine besondere Sprache, es kann ja auch surrealistisch sein oder ironisch, was bei den Ungarn eine große Rolle spielt. Auch das ist eine Form der kritischen Distanz. Das ist sehr wichtig, um zu großes Pathos zu vermeiden. Bei uns gibt es eine große Tradition von nationalem Bewusstsein und Pathos, daher ist die kritische Distanz dazu sehr wichtig.