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Archiv-Artikel

Ziellos im Niemandsland

UNION In der Atomfrage hat sich Angela Merkel verrechnet – und nicht nur da. Zu viel Taktik, zu wenig Strategie: Daran ist die Kanzlerin jetzt gescheitert

Joachim Raschke

■ 73, ist Politologe und Parteienforscher. Er ist Mitgesellschafter der Agentur für politische Strategie (Apos) in Hamburg. Im April veröffentlichte er mit Ralf Tils das Buch „Politik braucht Strategie – Taktik hat sie genug“ (Campus Verlag).

Ist Angela Merkel eine gute Strategin? Die schnelle Antwort heißt: Ja. Aber ihr fehlt etwas Entscheidendes: die Ziele, für deren Verfolgung der ganze Berechnungsaufwand Sinn macht. Merkels sehr reduziertes, sozialtechnisches Profil lässt sich mit drei Ks einfangen: Kalkulation, Koordination, Kanzleramt.

Angela Merkel ist eine Kalkulationsmaschine, die permanent Vorteilsberechnungen anstellt. Weil sie die Rechenarten beherrscht, hat sie bisher alles überlebt, was ihr im Wege stand. Doch eine der Grenzen von Kalkulation ist: Man kann sich verrechnen – vor allem, wenn man unter Zeitdruck steht. So war es bei ihrer Entscheidung für den „Professor aus Heidelberg“ 2005, als sie keine Zeit hatte, Folgen und Nebenwirkungen zu bedenken, was sie den sicher geglaubten Wahlsieg kostete. So war es jetzt bei Fukushima, wo sie unter hohem Zeitdruck eine hochkomplexe Entscheidung treffen musste. Mit dem fast begründungsfreien Reißschwenk von der Laufzeitverlängerung zur Stilllegung von Atommeilern hat sie ihre Glaubwürdigkeit definitiv verspielt.

Hand im Spiel statt Handschrift

Im Lehrbuch ist Koordination ein Teil von Führungskompetenz. Bei Angela Merkel ersetzt die Koordination dagegen die strategische Leadership. So war es in der großen Koalition, so war es lange Zeit in der EU. Nie war es ihre Handschrift, immer aber hatte sie ihre Hand im Spiel. Schwierig wird es für sie, wenn es nichts zu koordinieren gibt. Etwa, wenn sie einem Machtblock gegenübersteht, wie 2003 beim Leipziger Parteitag. Dort hat sie sich, zum Schaden der Gesamtpartei, der neoliberalen Front der Ministerpräsidenten angepasst.

Schwierig ist es auch, wenn sie Ziele setzen und Orientierung geben müsste, wie seit 2009 als Chefin des regierenden bürgerlichen Lagers. Oder jetzt, wo sie sich mit einem mutigen Programm gegen die Atomindustrie und wichtige Teile der eigenen Partei an die Spitze eines neuen Energiekonsens stellen müsste.

Aber: Widerstände durch eigene Überzeugung zu überwinden, gehört nicht zu Merkels Fähigkeiten. Ihr Kanzleramt ist keine Ideenschmiede, sondern eine Hochburg administrativer Steuerung. Es ist ein bisschen wie Kafkas Schloss: Man kann es mit Fragen erreichen, verbindliche Antworten gehen nicht raus. Fraktion und Partei liegen außerhalb der Festung, mit ihr nur lose verkoppelt.

Mit ihren drei Ks hält sich Merkel an der Macht. Aber es fehlen die strategischen Ziele, die als Einheit von Gestaltungs- und Machtzielen zu sehen sind. Die Reduktion nur auf Gestaltung oder nur auf Macht halbiert Strategie. Solche Eindimensionalität führt zu Macht- oder Politikvergessenheit.

Ohne Wertekompass unterwegs

Das zweite, was fehlt, ist der strategische Kompass. Dieser Kompass ist zugleich wert- und wegorientiert, ein kognitiv-normativer Wegweiser in unübersichtlichem Gelände. Was er leistet, können weder Kalkulation noch Koordination noch ein Kanzleramt ersetzen. Angela Merkel zeichnet sich dadurch aus, dass ihr ein solcher wertefundierter Kompass, den man sich in einer längeren politischen Sozialisation erwirbt, fast völlig fehlt.

Ein strategischer Kompass hätte ihr 2003 gesagt, dass die neoliberale Emphase der Ministerpräsidenten nur die halbe Wahrheit der CDU ist, zu der – als Volkspartei – das Soziale immer dazugehört. Dieser Kompass hätte ihr bei der Verlängerung der AKW-Laufzeiten 2010 signalisiert, wie gespalten die Gesellschaft gerade in der Atomfrage ist, und dass diese Spaltung vor allem durch die Wählerschaft ihrer eigenen Partei geht. Damit konnte sie also gar nicht gewinnen. Ein solcher Kompass hätte sie auch bei der Libyen-Entscheidung gewarnt, die Seite der Westmächte zu verlassen.

Anders als Schröder ist sie nicht nur Situationistin. Wegen der engen Grenzen ihres Strategieprofils wirkt sie aber häufig als bloße Taktikerin.

Seit Beginn der bürgerlichen Regierung 2009 sind die strategischen Defizite von Angela Merkel besonders krass sichtbar geworden. Ihre Mitte- und Öffnungsstrategie hin zur Wählerschaft von SPD und Grünen, mit der sie bei der Bundestagswahl gewonnen hatte, scheiterte daran, dass sie nur mit einer funktionierenden Arbeitsteilung innerhalb des erfolgreichen bürgerlichen Lagers möglich ist.

Die Polarisierungsstrategie, die seit dem Herbst 2010 zur Rettung von Mappus in Stuttgart und ihrer eigenen Position in Berlin dienen sollte, hat das rot-grüne Lager gestärkt. Das Gerede vom schwarz-grünen „Hirngespinst“ und der „Dagegen-Partei“ hat zudem die schwarz-grüne Option belastet. Was will Merkel wirklich?

Die Mehrheit ist schon verspielt

Wie aus einer Atompartei in einem halben Jahr eine Antiatompartei machen – und damit auch noch Wahlen gewinnen?

Sie ist jetzt in einem strategischen Niemandsland: In der Atomfrage wird sie verlieren, zerrieben zwischen Atom- und Bürgerinteressen – und das Thema bleibt bis 2013. Sie hat keine Strategie, um aus ihrer Atompartei in einem halben Jahr eine Antiatompartei zu machen. Und schon gar nicht ist es möglich, kurz hintereinander erst wegen und dann gegen Atompolitik gewählt zu werden. Mit einer Revisionsklausel – wie verklausuliert auch immer – ist beim Atomausstieg jedes Datum nichts. Sie wäre die permanente Drohung, den christdemokratischen Atomopportunismus fortzusetzen. Politik aus Angst vor den Wählern ist eine Reaktion, aber keine Strategie.

Schwarz-Gelb hat seine Mehrheit zudem schon verspielt, denn Merkel fehlt für 2013 eine vorzeigbare Machtperspektive. Die Union bleibt an die Verliererpartei FDP gekettet. Und: Merkel bleibt Merkel. Zu viel Taktik, zu wenig Strategie. Sie versucht dies und jenes, kann aber keine Konsistenz mehr herstellen. In der Griechenlandfrage nimmt sie Anleihen beim Rechtspopulismus, in der Atomfrage täuscht sie alle, gegenüber den Grünen agiert sie mit Zweideutigkeiten (zwischen Avancen und „Hirngespinst“). Oder sie versucht eine Neuauflage ihrer Mittestrategie unter schlechteren Bedingungen.

Schwer zu sagen, welche Strategie Merkel noch retten könnte. Rot-Grün verhindern und anschließend eine große Koalition eingehen erscheint zwar rechnerisch möglich – etwa, falls sich Rot-Grün als unfähig zu Wahlkreisbündnissen erweist. Aber eigentlich können Angela Merkel nur noch falsche Strategien ihrer Gegner retten.

JOACHIM RASCHKE