: SPD: Ups, es gibt ja Dumpinglöhne
SPD-Landeschef Müller bekräftigt die Forderung nach einem Mindestlohn. Und bügelt die Idee der Linkspartei, eine Bundesratsinitiative, ab. Die Gewerkschaften loben den Vorstoß, kritisieren aber auch rot-rote Scheinheiligkeit
Michael Müller hat sich verspätet. Der Tag der Arbeit, der 1. Mai, war schon etwas her, als der SPD-Landeschef noch einmal die Vorzüge eines Mindestlohns erklärte. „Das ist das Thema, das die Menschen bewegt haben wollen“, sagte Müller gestern. „Bei den Betroffenen gibt es einen hohen Leidensdruck. Sie erwarten, dass Politik handelt.“ Seiner Ansicht nach muss die Bundes-SPD der unwilligen CDU beim Mindestlohn mehr Druck machen. Niemand im politischen Spektrum könne die Frage besser entscheiden als die SPD, erklärte Müller weiter.
Wie bei der bundesweiten Diskussion gehen in Berlin die Ideen über die beste Umsetzung aber auseinander – und durch die rot-rote Koalition läuft ein Riss. Denn auch die Linkspartei ruft schon lange nach einem Mindestlohn. Landeschef Klaus Lederer hatte sogar angekündigt, Rot-Rot werde noch vor der Sommerpause eine Bundesratsinitiative starten. Diese Idee bügelte Müller jetzt brüsk ab: „Ich lasse mich von der Linkspartei nicht auf einen Termin festlegen und schon gar nicht treiben, wann ein Mindestlohn beschlossen sein soll.“ Eine Bundesratsinitiative zur falschen Zeit könnte kontraproduktiv sein, warnte der SPD-Mann.
Die Gewerkschaften freut das Signal der Koalition, auch wenn sie es sich an manchem Punkt klarer wünschten. DGB-Landeschef Dieter Scholz kritisiert die schwammige Formulierung Müllers zur Höhe des Mindestlohnes („Irgendwo zwischen 7 und 9 Euro“): „Die SPD muss endlich eine Zahl nennen.“ Der DGB fordert 7,50 Euro in der Stunde. Auch müsse der Senat seine Vergabepraxis ändern, so Scholz. „Land, Bezirke und öffentliche Unternehmen vergeben ihre Aufträge aus Kostengründen vor allem an Betriebe, die dramatisch schlecht zahlen.“ Dennoch begrüßt der DGB-Vorsitzende Müllers Einlassung. Ein gesetzlicher Mindestlohn sei „das Gebot der Stunde“, sagte Scholz. „Wir erfassen zentrale Bereiche der Arbeitswelt nicht mehr, prekäre Verhältnisse nehmen zu.“
Für Andreas Splanemann, den Sprecher des Landesverbandes der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, ist der Mindestlohn „ein Mittel, den freien Fall von Löhnen aufzuhalten.“ Gerade in Berlin führe die hohe Arbeitslosigkeit und der Druck auf dem Arbeitsmarkt zu Niedrigstlöhnen, so Splanemann. „Callcenter machen beispielsweise so schnell auf und zu, dass wir sie gar nicht mehr erfassen können. Die schwarzen Schafe werden mehr.“ Und in manchen Kleinbetrieben – etwa in Gastronomie und Friseurgeschäften – würden auch tarifliche Regelungen unterlaufen, sagte der Ver.di-Sprecher.
Dabei reicht selbst der Tariflohn in diesen Branchen kaum zum Leben. Die unterste Vergütung für eine angestellte Friseurin liegt laut dem WSI-Tarifarchiv der Hans-Böckler-Stiftung bei gerade mal 4,65 Euro brutto die Stunde. Sie kommt bei einer 37-Stunden-Woche auf einen Verdienst von 749 Euro. Für die Gewerkschaften hätte die Einführung des Mindestlohns also einen netten Nebeneffekt: Er würde ihre peinlichen Tarifabschlüsse vergessen machen.
ULRICH SCHULTE