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Archiv-Artikel

Die Notbremse des Präsidenten

Die politische Krise in der Ukraine ist ausgestanden, es wurden Neuwahlen angesetzt. Die Chancen, die nötigen Reformen weiterzuführen, stehen jetzt gar nicht so schlecht

Wilfried Jilge ist Osteuropa-Historiker an der Universität Leipzig. Er hat zahlreiche Publikationen zu Nation und Nationalismus und zur Erinnerungskultur in der Ukraine sowie zu den deutsch-ukrainischen Beziehungen veröffentlicht.

In der Ukraine zeichnet sich langsam eine Lösung der innenpolitischen Krise ab: Präsident Wiktor Juschtschenko, der einstige Held der „orangenen Revolution“, hat sich mit seiner Forderung nach Parlamentsneuwahlen durchgesetzt. Nach Wochen erbitterten Streits verkündeten er und sein Rivale, Premier Wiktor Janukowitsch, am Freitag, eine gemischte Arbeitsgruppe aus Vertretern aller Parteien solle bis zum Dienstag die Einzelheiten der Einigung festlegen.

Juschtschenko scheint damit sein Hauptziel erreicht zu haben: den Wechsel von Abgeordneten aus den ihm nahestehenden Fraktionen ins Lager von Ministerpräsident Janukowitsch zu stoppen, der dem Geist der Verfassung widerspricht. Gestoppt wurde damit auch die schleichende Machtverschiebung zugunsten der Regierung. Bekräftigt wurden dagegen die Positionen des Präsidenten, die im „Universal der nationalen Einheit“ festgelegt und im August 2006 von Janukowitsch als Grundlage akzeptiert wurden.

Wichtig ist auch, dass nicht alle Überläufer damit rechnen können, ins neue Parlament einzuziehen. Dies betrifft vor allem die Sozialisten unter Parlamentspräsident Oleksandr Moros, deren spektakulärer Wechsel ins Lager Janukowitschs im Juli 2006 die Bildung einer Koalition ohne Juschtschenkos Partei „Unsere Ukraine“ überhaupt erst ermöglicht und dem Parlament, dem „Rat“ (ukrainisch „Rada“), den Spitznamen „Verrat“ (ukrainisch „Srada“) eingetragen hatte. Die Neuwahlen könnten also eine disziplinierende Wirkung haben und die demokratischen Regeln festigen.

Juschtschenko geht aber nicht unbedingt gestärkt aus dem innenpolitischen Machtkampf hervor. Nicht nur, dass Janukowitschs „Partei der Regionen“ bei den bevorstehenden Neuwahlen voraussichtlich wieder stärkste Kraft im Parlament werden wird. Vor allem ist der Ruf des Präsidenten als Demokrat angekratzt. Denn in der innenpolitischen Krise hat er sich nicht mit juristischen, sondern einzig mit politischen Machtmitteln durchsetzen können. Damit hat er zwar endlich die Stärke gezeigt, die viele seine Anhänger direkt nach dem Sieg der „orangen Revolution“ im Dezember 2004 von ihm erwartet hatten und die er lange vermissen ließ. Doch tragen ihm viele nach, dass er und seine politischen Verbündeten ihre Chancen eineinhalb Jahre lang nicht genutzt und den von der Bevölkerung erkämpften Fortschritt bei der Demokratisierung der Ukraine beinahe wieder verspielt haben.

Dass er jetzt quasi die Notbremse gezogen hat, macht ihn angreifbar. Vor allem in der EU, wo man die komplexe Situation in der Ukraine nur schwer durchschaut, hat ihn dies auch Sympathien gekostet. Vielen scheint Juschtschenko nun nicht mehr als Bewahrer politischer Verfahren und Institutionen dazustehen. Vielleicht hat er aber auch nur die Kulissen der Scheindemokratie umgestoßen.

Dass am 31. März 2007 fast hunderttausend Menschen dem Aufruf der Opposition folgten und sich in Kiew versammelten, um Neuwahlen zu fordern, mag Juschtschenko darin bestärkt haben, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Er ist damit jedoch ein erhebliches Risiko eingegangen. Fast fünf Wochen lang weigerten sich Parlament und Regierung, die Entscheidung anzuerkennen und Neuwahlen als demokratischen Ausweg aus der Krise zu akzeptieren. Vertreter von Parlamentsmehrheit und Regierung ergingen sich in Schmäh- und Hassreden gegen den Präsidenten, die in der Forderung gipfelten, man müsse ihn wegen seiner im Präsidentschaftswahlkampf 2004 erlittenen Dioxinvergiftung für unzurechnungsfähig erklären lassen.

Die Überläufer haben dem Parlament (ukr.: „Rada“) den Spitznamen „Verrat“ („Srada“) eingebracht

Die „Partei der Regionen“, Sozialisten und Kommunisten beförderten ihre Anhänger mit Bussen und Sonderzügen nach Kiew, wo es ihnen sogar gelang, den Schauplatz der „orangenen Revolution“, den Maidan, zu besetzen. Ein Gutes hatte der Aufmarsch allerdings: Der Unterschied zu den Massenprotesten gegen die Wahlfälschung von 2004, die von echter Empörung getragen waren, wurde deutlich. Aber auch „Orange“ gelang es nicht mehr, die Bürger zu mobilisieren: Die Krise wurde vorrangig als Konflikt der politischen Eliten wahrgenommen.

Das Verfassungsgericht bot in dieser Situation keinen Ausweg: Es ist politisch besetzt und hat, seit es im August 2006 seine Funktionsfähigkeit wiedererlangte, noch kein einziges Urteil gefällt. Es hätte zudem auf Grundlage der in sich unstimmigen, da im Dezember 2004 während der „orangenen Revolution“ eilig geänderten und dann nicht ergänzten Verfassung entscheiden müssen.

Aber auch wenn die Lösung der Krise auf einer politischen Einigung und – davon ist auszugehen – einem Interessen-Schacher zwischen den Machteliten beruht, hat die postsowjetische Ukraine die Chance, in ihrer gesellschaftlichen und politischen Transformation ein gutes Stück weiter voranzukommen. Die Ausgangsbedingungen dafür sind gar nicht so schlecht: Dass die Proteste absolut friedlich verliefen – sowohl seitens der Demonstranten als auch der Sicherheitskräfte –, kann gar nicht genug hervorgehoben werden.

Keine politische Kraft verfügt in der Ukraine über Anhänger, die sich willenlos in eine Eskalation treiben ließen. Offensichtlich hat aber auch keine ernstzunehmende politische Kraft in der Ukraine ein Interesse daran, das Spiel zu weit zu treiben und das Land insgesamt zu destabilisieren, um es etwa wieder dem „großen Bruder“ Russland in die Arme zu treiben.

Wiktor Juschtschenkos Bild als „Held der demokratischen Revolution in Orange“ ist angeschlagen

Erstaunlicherweise blieb die Ukraine, während der interne Machtkampf tobte, wirtschaftlich stabil und außenpolitisch handlungsfähig. Die Gespräche mit der Europäischen Union über ein neues, erweitertes Abkommen wurden wie geplant fortgesetzt. Und keine Seite stellte das Recht des Außenministers Jazenjuk – der dem Präsidentenlager zugerechnet wird –, die Ukraine bei EU, OSZE und Nato zu repräsentieren, in Frage. Bemerkenswert ist übrigens, dass nur Jazenjuk (zu seinem Antrittsbesuch) auch nach Moskau reiste. Präsident und Premier dagegen fuhren nach Brüssel und Straßburg, um ihre Positionen vor den europäischen Institutionen darzulegen.

Jetzt kommt es darauf an, die demokratischen Institutionen zu festigen. Eine Reform der Wahlgesetze und der Verfassung, die in Bezug auf die Kompetenzverteilung zwischen den Institutionen lückenhaft und widersprüchlich ist, muss Teil dieses politischen Kompromisses sein. Die Wahlen müssen nach demokratischen Maßstäben durchgeführt, die Pressefreiheit gesichert werden. Bleibt nur zu hoffen, dass mit den Neuwahlen der längst fällige Wechsel der politischen Eliten in Gang kommt. Und schließlich muss endlich alles getan werden, um die durch die politischen Auseinandersetzungen polarisierte Gesellschaft zu versöhnen. Die Europäische Union, in deren genuinem Interesse eine demokratische, prosperierende und stabile Ukraine liegt, verfügt über Mittel und Einfluss, das Land bei der Fortführung dieser Reformen zu unterstützen. WILFRIED JILGE