: Jenseits von Realität und Fiktion
LIVE ART Was passiert, wenn Mensch und Körper an die Grenze ihrer Virtualität getrieben werden? Zum dritten Mal präsentiert das Live Art Festival auf Kampnagel in Hamburg aktuelle Tanz-, Performance- und Aktionskunst-Produktionen zwischen Kunst und Politik
VON ROBERT MATTHIES
So wie das Epiphänomen zum Phänomen hinzukomme und die Metaphysik zur Physik, gebe es auch etwas, das zur Metaphysik hinzukomme, ob innerhalb ihrer oder außerhalb. Und eben das sei der Gegenstand seiner Pataphysik, ließ der französische Schriftsteller Alfred Jarry seinen Doktor Faustroll verkünden: „Sie soll die Gesetze untersuchen, die diesen Ausnahmen unterliegen, und will das zu dem existierenden zusätzlich vorhandene Universum deuten.“ Eine Wissenschaft imaginärer Lösungen, die die durch ihre Virtualität beschriebenen Eigenschaften der Objekte symbolisch ihrem Lineament zuschreibt: jener gekrümmten Grenzzone, an deren Oberfläche sie beginnen, sich unaufhörlich zu verändern.
Damit hatte Jarry Ende des 19. Jahrhunderts die Tür zu einem Paralleluniversum aufgestoßen, das die Kunst seit den 1940er Jahren zunehmend emsig bevölkert: 1948 gründeten Künstler und Schriftsteller in Paris das Collège de ’pataphysique; Dramatiker wie Jean Genet und Eugène Ionesco verstanden sich als praktizierende Pataphysiker; Marcel Duchamp und John Cage führten die Pataphysik als konzeptuelles Prinzip in ihre Arbeit ein; die Situationisten um Asger Jorn erklärten sie zur neuen Religion; Fluxus, Neo-Dadaismus, Wiener Aktionskunst und die Performance- und Live Art in ihrem Gefolge: allesamt ohne Jarrys Pionierarbeit unvorstellbar.
Auf eine lange Geschichte also blickt das Live Art Festival auf Kampnagel in Hamburg zurück, wenn es seiner dritten Ausgabe ein Zitat des Jazztrompeters, Schriftstellers und erklärten Pataphysikers Boris Vian voranstellt und sich des ungeklärten Verhältnisses von Fiktionalität und Realität annimmt: „Diese Geschichte ist vollkommen wahr, weil ich sie von Anfang bis Ende erfunden habe.“
Sechzehn aktuelle internationale Tanz-, Performance- und Aktionskunstproduktionen hat Anne Kersting, die das Festival zum dritten Mal kuratiert, eingeladen, bis nächsten Samstag zu untersuchen, „wie wir uns aufführen“: welche Positionen können und wollen Mensch und Körper in der „Herstellung des Realen“ einnehmen? Wie lassen sich ungewohnte Perspektiven auf Bestehendes finden? Wie lässt sich die Ökonomie der Arbeit, des Krieges, der Körper, des Wissens ihrem Lineament zuschreiben? Was bedeutet es, im Alltag Kunst produktiv werden zu lassen? Und wo unterscheiden sich beide?
Für ihre auf zehn Teile angelegte Musiktheater-Serie „Life and Times“ etwa haben sich Pavol Liska und Kelly Cooper vom New Yorker Off-Off-Broadway-Ensemble Nature Theater of Oklahoma 16 Stunden lang von ihrer Schauspielerin Kristin Worrall deren gesamte Lebensgeschichte am Telefon erzählen lassen: 34 Jahre live rekonstruiertes US-amerikanisches Durchschnittsleben. Beim Internationalen Sommerfestival war letztes Jahr der erste Teil der Übertragung ins Musical-Format zu sehen: Exakt transkribiert, mit allen Wiederholungen, Korrekturen und Stotterern, mit jedem „Äh“ und „Hm“ konnte man drei Stunden lang die ersten sechs Lebensjahre der Kristin Worrall miterleben. Nun kehren die New Yorker mit dem zweiten Teil ihres Alltags-Epos zurück und erzählen, singen und tanzen in Adidas-Trainingsanzüge gewandet vom ersten Kuss und der ersten heimlichen Zigarette. Das allein ist unterhaltsam. Wirklich spannend wird es, wenn die zur minutiösen Perfektion gezwungenen Akteure scheitern: dann werden die subtilen Brüche sichtbar, mit denen die künstlerische Aneignung des einzelnen Lebens zwangläufig einhergeht. Und aus dem inszenierten Menschen wird wieder der ganz reale mit all seinen Schwächen. Oder?
Ob man sich auf den anderen verlassen kann und ob sich gemeinsam Handlungsfähigkeit erlangen lässt, obwohl die anderen immer fremd bleiben und nur ihr Verhalten sichtbar wird, steht in der „Befreiungsfantasie“ „Ödipus der Tyrann“ des Hamburger Radiokunst- und Kunsttheorie-Kollektivs Ligna auf dem Spiel. Was wir tun können, wenn wir nicht beherrschen, was uns bestimmt, fragt das performative Kollektiv-Hörspiel ausgehend von Hölderlins Sophokles-Übersetzung, indem Stimmen über Kopfhörer Anweisungen geben, bei denen nicht immer klar ist, was sie für den Einzelnen bedeuten. Was dann tatsächlich passiert, bleibt so für alle Beteiligten unvorhersehbar.
Ganz allein bleibt auch Ivana Müller in „60 Minutes of Opportunism“ nicht, die darin eine Stunde lang ihren performenden Körper mit aufgezeichneter Stimme kommentiert. Und gemeinsam mit der Zuschauerin in einem Spiel mit Ungewissheit und Kontrolle, Autorenschaft, Ausführung und Wahrnehmung die eigene Rolle neu bestimmt. Mit jeder Menge Humor.
■ Hamburg: Mi, 1. 6. bis Sa, 11. 6., Kampnagel, Jarrestraße 20; Infos und Programm: www.kampnagel.de, www.aspaceforliveart.org