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Archiv-Artikel

Wo edler Ostseesand für die Armen rieselt

Ein Teltower Landrat gab vor 100 Jahren das wilde Baden im Wannsee frei. Daraus wurde Europas größtes Freibad und ein schwerer Sanierungsfall

RAUS NACH WANNSEE

Das Strandbad Wannsee feiert heute seinen 100. Geburtstag. Zum Jubiläum – vielleicht wird es ja wieder sonniger – werden an der Kasse statt 4 Euro nur 100 Cent verlangt. Außerdem wird das Buch „100 Jahre Strandbad Wannsee“ von Autor Matthias Oloew vorgestellt. Die offizielle Feier des Senats, der Bäderbetriebe und der Stiftung Denkmalschutz steigt am 12. Juni. Die Anlage ist seit drei Jahren für rund 12,5 Millionen Euro grundsaniert worden. Seit der Saisoneröffnung Ende April bevölkerten wieder Tausende das beliebte Strandbad. Am 8. Mai 1907 war zum ersten Mal in Preußen offiziell das Baden erlaubt worden. TAZ

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

In Deutschland geht alles und jedes nur per Verordnung – das öffentliche Baden der sittlich-moralischen, respektive der lebensgefährlichen Bedenklichkeiten wegen sowieso. Gleich mehreren polizeilichen Verordnungen verdankt das „Strandbad am Großen Wannsee“ seine Existenz und Eröffnung vor genau 100 Jahren am 8. Mai 1907.

Erst entschied Ernst von Stubenrauch, Landrat des Kreises Teltow, zu dem bis 1920 auch der Wannsee gehörte, zu jenem Datum den bis dahin wilden Badebetrieb nun offiziell „am Ostufer des Wannsees“ freizugeben. Die Verbotsschilder ließ der liberale Landrat abschrauben. Die mit Pickelhaube behelmten Gesetzeshüter, die den nicht reglementierten, aber immer umfangreicher werdenden Ausflugs- und Badebetrieb zu verhindern suchten, wurden abgezogen.

Ebenfalls mittels Verordnung wurde bald nach der Eröffnung die Länge des Badestrandes auf 500 Meter festgelegt und in Damen-, Herren- und Familienabschnitte eingeteilt. Und schließlich sollte der Züchtigkeit wegen der liberale Berliner-Freibäder-Verein, der sich für das Baden im Wannsee starkgemacht hatte, für eine Badeordnung sorgen: Die lendenschurzartige Badehose für Männer wurde untersagt, die „Oberschenkel mussten zur Hälfte bedenkt“ sein. Für die Frauen kam es noch dicker: Ihnen war ein „Badeanzug vorgeschrieben, der Schultern, Brust, Leib und Beine etwa bis zum Kniegelenk hinunter bedeckt“.

Dass dennoch Kinder nackt, Männer in taschentuchgroßen Höschen und Frauen hier und da kürzer badeten, war nur natürlich. Berichte aus Tageszeitungen und mehr noch in Polizeiakten – gefertigt von Schupos, ordentlich „getarnt“ in patriotisch schwarz-weiß-roter Badetracht – belegen dies. Das sozialdemokratische Presseorgan Vorwärts, welches die Eröffnung Wannsees als Konsequenz des siegreichen Kulturkampfs der Arbeiterklasse gegen den konservativen Wilhelminismus und dessen reaktionäre Moralvorstellungen feierte, schrieb 1907 zur Eröffnung euphorisch: „Hier herrscht wirkliche Freiheit, kein polizeiliches Auge wacht und trotzdem wickelt sich bei den nach Tausenden zählenden Badegästen alles glatt ab“.

In der Tat war das Bedürfnis der Berliner, in Wannsee zu baden, riesig: Bereits 1912 zählte das Strandbad 500.000 Besucher. Die Anziehungskraft des Wassers in der sandigen, flach abfallenden Bucht gepaart mit dem Gefühl, der Enge der Mietskasernenstadt entflohen zu sein, wurde Kult. Wannsee war Symbol für Licht, Luft und Sonne und gab Raum für die Natur suchende, emphatische Jugend- und Refombewegung jener Zeit.

Heute, 100 Jahre später, versprüht Wannsee noch immer einen Hauch von Ostsee oder Adria – der Sand ist fast weiß und die Luft frühsommerlich warm. Klaus Lipinsky, Chef der Berliner Bäderbetriebe (BBB), ist allerdings nicht in Ostsee- oder Mittelmeerstimmung. Lipinsky hat schlechte Laune. Dabei müsste er froh sein angesichts der Renovierungen und des Jahrestages. Zum 100. Geburtstag wurde das Wannseebad herausgeputzt. Die Wege hinunter zum See wurden planiert, Treppen neu angelegt, die Sonnendecks sowie die langen Promenaden und Hallen für die Umkleiden und Läden saniert. Die neuen gelben Klinker reflektieren hell das Licht. Die „Perle“ lädt zum Baden ein.

Dass der Bäderchef verstimmt ist, hat mehrere Gründe. Gerade hat SPD-Innensenator Ehrhart Körting das Programm für die Feierlichkeiten am 12. Mai statt mit den Bäderbetrieben mit Lipinskys Intimfeind, der Stiftung Denkmalschutz Berlin, verabredet. Das ist ein Affront gegenüber den landeseigenen Betrieben, die mühsam 4 Millionen Euro in die umfangreiche Renovierung und Infrastrukturmaßnahmen des Wannseebades steckten.

„Wir haben alles, ja mehr getan, unseren Anteil an der Sanierung beizutragen“, sagt Lipinsky. Dass zum 100. Geburtstag das Bad – Lipinsky sagt, „idealerweise“– nicht komplett renoviert werden konnte, sollte „anderen“, aber nicht den BBB angelastet werden. Mit den „anderen“ meint Lipinsky die Stiftung Denkmalschutz. Die hat seit 2004 unter Mithilfe von Sponsoren mit einer Investition von 8,5 Millionen Euro große Teile der maroden Bausubstanz des Bades erneuert, die gelblich schimmernden Sonnendecks instand gesetzt sowie die wunderbaren Promenadengänge im Original weitgehend wiederhergestellt. Völlig zu Recht schwärmt Helmut Engel, früherer Landeskonservator und nun Stiftungsgeschäftsführer, jetzt vom „Flaggschiff“ am Wannsee, das wieder flott sei.

Aber eben nur teilweise wieder flott: Die vorgesehene Sanierung des Strandrestaurants „Lido“, des immerhin größten Gebäudekomplexes, ist fehlgeschlagen. Das ovale Ensemble mit Gasträumen und Terrassen steht leer und gleicht einer Bruchbude. Die Räume sind nicht mehr nutzbar, die Wandelgänge erinnern an den Palast der Republik. Bis auf das nackte rostige Stahlgerippe ist alles heruntergerissen. Und das ist der Streitfall.

Die Stiftung wirft den Bäderbetrieben vor, sich nicht frühzeitig und ausreichend um diesen Part der Sanierung gekümmert zu haben. Man habe nicht nur „ein unterschiedliches Tempo in Vorgehensweise und Entscheidungsfindung“ feststellen müssen, klagt Stiftungsvorstand Lothar de Maizière in Richtung BBB. Es sei den Bäderbetrieben zudem nicht gelungen, einen Investor zu finden, der das Lido renoviert, betreibt und die Einnahmen „zweckgebunden für die dauerhafte Pflege und Erhaltung“ des Denkmals einsetzen sollte, so de Maizière.

Richtig ist, dass die Suche nach einem Investor für das Lido schwerfällig war. Berlin machte Ausschreibungen, aber niemand wollte das Bad. Nach Alternativen suchte das Land nicht. Richtig ist aber auch, dass die Überlegungen der Stiftung, ein Wellnessbetrieb mit ganzjähriger Nutzung würde schon Investoren auf den Plan rufen, naiv war. Nicht nur die Vernachlässigungen der letzten Jahrzehnte und damit Umbaukosten in Höhe von 8 Millionen Euro schrecken Investoren ab. Auch das Wellness-Konzept draußen in Wannsee wird von Standortexperten als wenig praktikabel angesehen.

Der Sanierungsbedarf war – und was das Lido angeht, ist er immer noch – extrem hoch, steht das gesamte Strandbad am Großen Wannsee doch seit 1929 so da, wie wir es kennen, lieben oder hassen und besungen haben. Als Mitte der 1920er-Jahre über eine halbe Million Besucher pro Saison nach Wannsee strömten, entschied der Berliner Magistrat – nach einem Brand vor Ort –, die hölzernen, reetgedeckten Umkleiden abzureißen. Statt ihrer entwarf Baustadtrat Martin Wagner 1926 ein „Weltstadtbad“ in doppelter Größe im Stil der Neuen Sachlichkeit.

Der Generalplan sah auf über 1.000 Meter Länge entlang der Wasserlinie eine hochmoderne Badeanstalt mit schnittigen, horizontal gegliederten Baukörpern vor: ein architektonischer Funktionstanker für die „Wasserratten“ der Weltstadt Berlin. Eine 800 Meter lange Gebäudepromenade für den Publikumsverkehr hielt das Ensemble zusammen. Darüber reihten sich vier zweigeschossige Blocks für Umkleiden, Duschen und andere Funktionsräume. Schließlich schlossen die großen Sonnendecks wie eine Attika das Bauwerk ab. Das Lido – damals wie heute am südlichen Ende gelegen – sollte ursprünglich im Mittelpunkt einer von Wagner einst doppelt so groß geplanten Badeanlage liegen. Die Weltwirtschaftskrise am Ende der 1920er-Jahre verhinderte diese Gigantomanie – trotzdem ist bis dato Wannsee Europas größtes Freibad. Das Strandbad war hip. Es kamen die Massen, manchmal 40.000, manchmal 70.000 täglich. Rekord waren 1,3 Millionen Badegäste 1930. Das Volksbad zog Künstler an. Bert Brecht tauchte hier ab. Es wurden Filme gedreht, Sport gemacht und inszeniert.

Was Berlin in der Nazi-Zeit erlebte, spiegelte sich auch in den Geschichten des Strandbades. Die Sonnendecks in Wannsee waren mit Hakenkreuzen beflaggt. Den Strand bevölkerten manchmal Jugendliche, die in Reih und Glied Wehrsportübungen machte. Noch 1933 verübte Strandbaddirektor Hermann Clajus in seinem Büro aus Angst, verhaftet zu werden, Selbstmord. Seit 1933 waren Juden in Wannsee unerwünscht. Nach den Olympischen Spielen 1936 wurde ihnen der Zugang verboten.

Kommt es einem Wunder gleich, dass das Bad sowohl den Zweiten Weltkrieg als auch das Froboess-Geträller 1951 unbeschadet überstand, so ist nicht verwunderlich, dass es dem anhaltenden Run der Berliner nicht baulich unversehrt entkam. Seit den 1960er-Jahren bröckelte die Architektur. Betriebsbereiche gingen zu Bruch, ein mehr und mehr marodes Bad empfing immer weniger Besucher. Denn mit dem Verfall setzte ein Rückgang der Gästezahlen ein. Hinzu kam seit den 1990er-Jahren, nachdem eine gescheiterte Sanierung des Bezirks ganze Gebäudeteile zu Ruinen verwandelte, ein prekärer Ruf: Fettige Pizza, grünes Wasser, dicke, aufgemuskelte Männer, zu stark parfümierte Frauen und brüllende Kinder in Größenordnungen von insgesamt 10.000 täglich bildeten das Wannsee-Klischee. Die einstige „Perle“ wurde zur „Ostsee für Arme“.

Dass die Teilsanierung nur ein erster Schritt ist, das Perle-Image zurückzugewinnen, scheint evident. Die weiteren Renovierungen unter Beibehaltung des öffentlichen Volksbadcharakters müssen folgen. Denn der edle Sand – der ist vom Timmendorfer Strand – verdient ein gut behütetes Denkmal und Badende, die es lieben.