: Übeltäter unter Einzelaufsicht
Die Gewaltkriminalität von jungen Männern nimmt zu. Ein Kriminologe fordert ein Konzept, das die Kooperation von Schule, Jugendamt, Polizei und Justiz im Umgang mit Intensivtätern verbessert
VON PLUTONIA PLARRE
Die Jugendkriminalität nimmt ab, aber die Gewalt- und Rohheitsdelikte von Jugendlichen und jungen Erwachsenen nehmen beständig zu. Unter der Überschrift „Umgang von Polizei und Staatsanwaltschaft mit Intensiv- und Schwellentätern“ diskutierte gestern der parlamentarische Innenausschuss über das Thema (siehe Text unten).
Dabei ist die Entwicklung der Gewaltkriminalität nicht neu. Die sehr emotional geführte öffentliche Debatte beruhte bislang aber mehr auf Vermutungen als auf Fakten. Damit ist jetzt Schluss. Im Auftrag der Landeskommission gegen Gewalt haben der Kriminologe Claudius Ohder und der Psychologe Lorenz Huck die Akten von 264 sogenannten Intensivtätern untersucht (taz berichtete). Als Intensivtäter gelten jugendliche und junge Erwachsene, die zehn oder mehr Gewaltdelikte oder mehrere besonders schwere Straftaten auf dem Konto haben.
Gegen die untersuchten Intensivtäter waren 6.357 Verfahren anhängig, also im Schnitt 24 pro Nase. Das Ergebnis der Expertise, die durch eine zweite Studie ergänzt werden soll, fasste Ohder gestern im Innenausschuss so zusammen: Intensivtäter sind junge Männer, überwiegend mit Migrationshintergrund. Die späteren Probleme haben sich schon in der Grundschule „im Verhaltens- und Leistungsbereich“ abgezeichnet. Die Intensivtäter kommen aus problembelasteten Familien; „ihre Eltern haben es nicht geschafft, sich zu integrieren“, so Ohder. Kaum einer der Untersuchten hat einen Schulabschluss. „Die beruflichen Voraussetzungen gehen gen null.“ Die Folge: Abhängen auf der Straße, in „Cliquen oder Pseudogangs“, Abdriften in Subkulturen.
Die Straftaten beginnen mit Diebstahl, Schwarzfahren und Ähnlichem, sagte der Kriminologe. „Aus den Abziehertaten werden Raubdelikte.“ Bezeichnend findet Ohder, dass die mit den Kindern und Jugendlichen oftmals schon frühzeitig befassten Behörden wie Schule, Jugend-, Bewährungs- und Jugendgerichtshilfe schlecht bis gar nicht zusammengearbeitet haben. Wechselnde Zuständigkeiten, Fehlen geregelter Übergabe, Schlamperei, so benennt Ohder die Probleme. Seine Forderung: Eine Person müsse zur festen „Betreuungsverantwortungsinstanz“ für den Jugendlichen werden. Er denkt an eine Art „Case-Manager“ vom Jugendamt, der „die Maßnahmen zu einer einheitlichen Wirkung“ verdichten soll. Ohder zeigte sich überrascht darüber, wie wenig erzieherische Maßnahmen in den Akten dokumentiert seien: „Es gab viele weiße Flecken.“
Auch bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Richtern müsse es eine personenbezogene Zuständigkeit geben, so das Fazit des Kriminologen. Ob kriminelle Karrieren durch verstärkte Repression gestoppt werden könnten, fragten die Abgeordneten. Ohders Antwort: Repressive Maßnahmen seien durchaus sinnvoll. „Aber sie müssen stärker in ein Gesamtkonzept eingebaut werden, sonst verpuffen sie und führen zu keiner Verhaltensänderung.“
Thomas Härtel (SPD), Vorsitzender der Landeskommission gegen Gewalt und Sportstaatssekretär, sagte, die meisten von Ohders Forderungen seien längst umgesetzt worden. Der Untersuchungszeitraum für die Studie seien die Jahre 2000 bis 2005 gewesen. Seither habe sich viel getan. Schule, Jugendämter, Polizei und Justiz seien angewiesen, feste Zuständigkeiten zu entwickeln, Informationen miteinander auszutauschen und schnellstmöglich die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten. Auch die offenen Jugendeinrichtungen in den Kiezen sowie Quartiersmanagement und Kirchengemeinden seien aufgefordert worden, stärker an einem Strang zu ziehen, wenn es um verhaltensauffällige Jugendliche gehe. Härtel will zudem die erzieherischen Fähigkeiten der Eltern stärken. Ein entsprechendes Konzept wird in seinem Haus derzeit ausgearbeitet.
Bei der Staatsanwaltschaft gibt es seit 2003 eine Sonderabteilung, die ausschließlich für Intensivtäter zuständig ist. Zurzeit sind dort 470 Jugendliche erfasst. Auch die rund 1.500 sogenannten Schwellentäter – Jugendliche auf der Vorstufe zum Intensivtäter – sollen jetzt einen festen Jugendstaatsanwalt bekommen. Bei der Polizei sind außerdem 143 Jugendliche registriert, die als „kiezorientierte Mehrfachtäter“ gelten. Auch sie haben einen festen Polizisten, der sich um sie kümmert.