Noch mal mit Gefühl

Nicht mehr lange, und Sabrina Seiler bricht unter ihrem Gewicht zusammen. Die Lehrerin wiegt inzwischen 103 Kilo. Nun sucht sie Rat bei Christiana Gerbracht, der Ernährungsberaterin. Die setzt auf Selbsterkenntnis statt Verbote

„Das Gefühl für gesunde Ernährung geht verloren“, sagt Christiana Gerbracht. Das will sie Klientinnen wie Sabrina Seiler zurückgeben

POTSDAM-REHBRÜCKE taz ■ Termine bei Christiana Gerbracht sind knapp. Trotzdem ist ihr Wartezimmer leer. Und damit ist auch schon das Problem ihrer Klienten umrissen: Die wollen nicht gesehen werden, wenn sie ihre Ernährungsberaterin treffen. Es wird eh schon genug öffentlich darüber diskutiert, welchen Schaden sie sich und der Gesellschaft zufügen.

Christiana Gerbracht ist Ökotrophologin am Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke. Sie hilft Menschen, sich von einer elementaren Last zu befreien: ihrem Übergewicht. Gerbracht selbst ist 1,58 Meter groß und wiegt 55 Kilo. Das entspricht einem perfekten Body Mass Index (BMI) von 22. Normal ist ein BMI zwischen 19 und 25. Alles, was darunter liegt, deutet auf Untergewicht hin, alles darüber auf Übergewicht. Fettleibig ist, wer einen BMI von 30 und höher hat. Das sind dann Gerbrachts Klienten.

Deutschland ist zu fett. Drei Viertel aller Männer, 59 Prozent der Frauen und sogar 16 Prozent der Kinder haben Übergewicht. Laut einer aktuellen Studie sind die Deutschen Europameister der Dicken. Und wer zu fett ist, wird krank: Diabetes, Atem-, Herz- und Kreislaufbeschwerden, Rheuma, psychische Störungen. Das Institut in Potsdam-Rehbrücke, bundesweit führend in der Ernährungsforschung, untersucht seit dreißig Jahren den Zusammenhang zwischen so genannten Wohlstandskrankheiten und Körpermasse. Dass es den gibt, ist unstrittig. Die Wissenschaftler aber wollen es genau wissen: Welche Rolle spielt es für einen Krankheitsverlauf, in welchem Alter jemand dick geworden ist? Welches Körperfett verursacht welche Leiden?

Jetzt, nach den alarmierenden Studienergebnissen, sagt auch die Politik Fresssucht und Trägheit den Kampf an. Verbraucherminister Horst Seehofer (CSU) will heute einen „Aktionsplan Ernährung“ vorstellen. Stoßrichtung: Aufklärung, Vorsorge, Veränderung der Esskultur in den Familien, Schulen und Kantinen, mehr Bewegung.

Denn Übergewichtigkeit ist nicht nur ein persönliches Problem, es ist vor allem eine volkswirtschaftliche Gefahr. Für die Behandlung von Adipositas, der Fettleibigkeit, geben die Kassen jährlich 530 Millionen Euro aus. Zählt man so genannte Co-Morbiditäten hinzu, Rückenprobleme oder Atembeschwerden, beläuft sich die Summe auf fünf Milliarden. Das hat das Institut für Gesundheitsökonomie ermittelt. Und die Deutsche Adipositasgesellschaft hat errechnet, dass fünf Prozent aller Gesundheitsausgaben in Industrieländern für die Behandlung von Übergewicht ausgegeben werden.

Es ist paradox: Noch nie konnten sich Menschen so gesund ernähren wie heute. Aber sie packen sich noch immer jene Produkte in den Einkaufskorb, die ungesund sind und dick machen: Fertiggerichte, Fastfood, Weißmehlerzeugnisse. Wenig Gemüse, kaum Obst. Christiana Gerbracht vergleicht die Deutschen gern mit einem Auto: „Das Auto braucht Benzin. Nie würde der Besitzer Diesel tanken, nur weil es billiger ist. Er weiß ja, davon würde der Motor kaputt gehen.“ Beim Essen aber macht es der Deutsche genau umgekehrt: Sparen statt Qualität, billig statt gut, sagt die 45-Jährige. Gegessen wird nebenbei, kaum jemand weiß mehr, welche Stoffe seine Nahrung enthalten. Fertigprodukte strotzen vor versteckten Fetten und Kohlenhydraten. „Das Gefühl für Lebensmittel und gesunde Ernährung ist verloren gegangen“, sagt die Beraterin. Dieses Gefühl will sie ihren Patienten zurückgeben.

Sabrina Seiler* ist eindeutig zu dick: 1,64 groß, 103 Kilo, das ergibt einen ungesunden BMI von 38. Ihr Hausarzt warnt seit Jahren: Wenn sie nicht endlich etwas unternimmt, wird sie in Kürze unter ihrer Last zusammenbrechen. Die Knie- und Hüftgelenke der 46-jährigen Lehrerin sind so abgenutzt wie die einer 65-jährigen Normalgewichtigen, beim Treppensteigen schnauft sie, ihre Arme stehen seitlich vom Körper ab. Jetzt hat die Brandenburgerin einen Termin bei Christiana Gerbracht. Sie will 20 Kilo abspecken.

„Das ist viel zu viel für den Anfang“, sagt die Ernährungsberaterin, „realistisch sind fünf bis zehn Kilo in einem Jahr.“ Auf dem Tisch, an dem Christiana Gerbracht und ihre Patienten miteinander reden, thront eine Ernährungspyramide aus Pappe. Eine Drohung. Oder ein Angebot. Unten sind die Lebensmittel aufgemalt, von denen man am meisten essen sollte: Obst, Gemüse, Getreideprodukte. Darüber jene, von denen es schon weniger sein darf: Fleisch, Wurst, Milchprodukte, Öl, Fette, Fisch. Und ganz oben das Hüftgold: Kuchen, Schokolade, Zucker, Alkohol. „Das weiß ich alles“, sagt Sabrina Seiler. „Ich will ja abnehmen, aber ich esse einfach gern.“ Genau das sei der Knackpunkt“, sagt Gerbracht. „Rational ist den Menschen klar, wie sie abnehmen würden. Aber umsetzen können sie es nicht.“

Christiana Gerbracht hat Mittagspause. Sie geht nach nebenan in die kleine Küche und deckt den Tisch. Sie zelebriert das Essen, nur für sich. Salat aus Paprika, Tomaten, Mozzarella und Olivenöl gibt es heute, dazu eine Scheibe Vollkornbrot mit Margarine und fettarmem Käse. „Gekocht wird abends“, sagt sie. „Es ist totaler Quatsch, abends nicht warm zu essen. Und nach 18 Uhr auch nichts mehr. Wer ist schon vor sechs zu Hause?“ Sie sagt auch, dass es beim Essen keine Sünden gibt. „Alkohol, Schokolade – alles erlaubt. Nur nicht täglich.“ Sie sagt nicht: Übergewichtige müssen sich einschränken. Sondern: Wer abnehmen will, muss schlechte Gewohnheiten über Bord werfen. Und: Eine Diät muss an die Lebensumstände angepasst sein, sonst funktioniert sie nicht.

Sabrina Seiler hat schon einiges probiert, was der Diätmarkt zu bieten hat. Mal hat sie die Kohlenhydrate weggelassen, mal das Fett, sie hat auf Zucker verzichtet, auf Alkohol. Wenn sie zwei Kilo abgenommen hatte, hat sie sich vor Freude mal was gegönnt. Schon waren drei Kilo wieder drauf, der Jo-Jo-Effekt. Sabrina Seiler ist immer wieder krankgeschrieben: mal wegen Darmbeschwerden, dann wegen heftiger Kopf- oder Rückenschmerzen. Sie wurde schon zweimal an den Knien operiert, bezahlt hat das ihre Krankenkasse. In der Schule ist unterdessen der Unterricht ausgefallen.

Von Christiana Gerbracht erwartet sie einen Ernährungsplan und Kochrezepte. Das aber wird ihr die promovierte Ernährungswissenschaftlerin, die seit sieben Jahren in Rehbrücke arbeitet, nicht bieten. „Wir sind kein Kochstudio“, sagt Christiana Gerbracht. Sie fragt stattdessen: „Wie essen Sie? Was macht Sie beim Essen glücklich? Wie oft trinken Sie Alkohol?“ Die Sitzungen bei Christiana Gerbracht ähneln einer Psychotherapie. Die Expertin drückt das so aus: „Die Übergewichtigen lernen, ihr Gewicht selbst zu managen.“ Hilfe zur Selbsthilfe.

Sabrina Seiler braucht es trotzdem praktischer. Sie will nicht nur hören, was mit ihr passiert, sie muss es auch sehen. Dafür wird sie in den kommenden Tagen aufschreiben, was sie den Tag über isst. Zum Beispiel das Frühstück: eine Scheibe Vollkornbrot, darauf Butter, je eine Scheibe Mortadella und Käse. Achtzig Gramm Belag auf 40 Gramm Brot. Christiana Gerbracht wird später nicht sagen: „So geht das nicht.“ Sie wird fragen: „Halten Sie das für ein gutes Verhältnis?“ Die Antwort kann sich Sabrina Seiler selbst geben. Das nennt Christiana Gerbracht dann eine „gelungene Selbsterkenntnis“. SIMONE SCHMOLLACK

* Name geändert