: Stress mit dem Test
Hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof ist die Stimmung nicht allzu gut. Hier sitzt die Gruppe, die den Stresstest koordiniert, mit dem die Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs bewiesen werden soll. Kritik an dem Projekt daran findet sich auch in zwei Fachartikeln, die derzeit kursieren
von Sandro Mattioli
Eisenbahner sind eine besondere Spezies Mensch. Viele lassen selbst zu Hause nicht von ihrem Beruf und lenken in ihrer Freizeit Märklin-Loks im Hobbykeller. Echter Bahner ist man nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen. Das erklärt auch, warum die Bahner derzeit eifrig Artikel weiterschicken, die für Furore sorgen: Eisenbahn-Revue International heißt das international renommierte Heft (www.minirex.ch). Gleich zwei Artikel der aktuellen Ausgabe widmen sich dem Thema S 21. Und beide stellen S 21 ein vernichtendes Zeugnis aus.
Der erste Aufsatz stammt von Christoph M. Engelhardt aus München. Engelhardt ist promovierter Physiker, er sagt von sich, er sei eigentlich kein ausgewiesener Bahnexperte. Über das Schlichtungsverfahren war er zum Thema Stuttgart 21 gekommen. Und dann hatte er getan, was er auch beruflich als Analyst jeden Tag tut: Fakten zusammentragen und diese bewerten. Engelhardt beschreibt, wie das Versprechen der deutlich höheren Leistungsfähigkeit des neuen Tiefbahnhofs zustande gekommen sei. In einem Interview habe der Infrastrukturplaner der Schweizer Bahn, Daniel Boesch, gesagt, der achtgleisige Durchgangsbahnhof habe „ungefähr die doppelte Leistungsfähigkeit eines 16-gleisigen Kopfbahnhofs“. Diese Aussage habe die Deutsche Bahn als offizielle Information an die Medien gegeben.
Stresstest selbst mit zehn Gleisen nicht zu bestehen
Engelhardt glaubt nachweisen zu können, dass in der Folge die Leistungsfähigkeit stets zu hoch angegeben worden sei. Im Vergleich zu anderen Durchgangsbahnhöfen wäre S 21 in der Form, wie es der Stresstest vorsieht, dreimal so leistungsfähig wie die recht neuen Durchgangsbahnhöfe Frankfurt-Flughafen und Kassel-Wilhelmshöhe. Engelhardt ist sicher, dass S 21 mit zehn Gleisen lediglich vierzig Züge pro Stunde abfertigen könne.
Damit würden die Vorgaben nicht erfüllt. „Für das Bestehen des Stresstests müsste die DB AG einen bisher unbekannten revolutionären technischen Fortschritt nachweisen, der die singuläre Leistungsfähigkeit von S 21 unter Deutschlands Bahnhöfen rechtfertigt“, schließt er. „Der Stresstest für Stuttgart 21 kann – realistisch betrachtet – selbst mit zehn Bahngleisen nicht bestanden werden.“ Eine Sprecherin der Bahn erklärt dazu auf Anfrage lediglich, dass das Unternehmen immer der Meinung gewesen sei, dass der Stresstest bestanden werde und dass man bei dieser Ansicht bleibe. Engelhardt kritisiert weiter, dass ein integraler Taktfahrplan – also der für minimale Umsteigzeiten aufeinander abgestimmte Halt von Zügen – mit dem Durchgangsbahnhof nicht erreicht werden könne: „Eine tatsächlich international unstrittige Erkenntnis ist, dass für den Bahnkunden das vorteilhafteste Angebot ein integraler Taktfahrplan ist. Und auch die Befürworter betonen immer wieder, dass sie dies als ‚Idealfall‘ gerne hätten, nur ist der im achtgleisigen Durchgangsbahnhof unmöglich … In Stuttgart wären für einen Vollknoten mindestens 14 Gleise nötig, wodurch selbst ein auf zehn Gleise erweiterter Tiefbahnhof dieses wichtigste Ziel des Bahnverkehrsangebots ausschließen würde.“
Die zweite Analyse stammt von dem Eisenbahn-Experten und Diplomingenieur Sven Andersen. Es geht darin um ein Thema, das zunächst nebensächlich anmutet: die Neigung der Bahnhofsgleise. Diese läge im Fall Stuttgart bei rund 15 Promille. Die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO), das dafür maßgebliche Regelwerk, sieht aber eine Begrenzung von 2,5 Promille vor. Andersen schreibt, man habe dieses Problem erst einmal verschwiegen. Doch mit dem Planfeststellungsverfahren habe man der Möglichkeit ins Auge sehen müssen, „dass das Eisenbahnbundesamt sich auf die Einhaltung von § 7 (2) der EBO bei der Bahnsteiggleisneigung beruft, womit die gesamte Planung zu Stuttgart 21 hinfällig geworden wäre“.
Die Bundesregierung erklärte später in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage zu Bau- und Kostenrisiken des Projektes Stuttgart 21: „Hinsichtlich der Längsneigung von Bahnhofsgleisen sind … Sollanforderungen geregelt. Das bedeutet, dass diese im Regelfall zur Anwendung gelangen, wenn nicht wie vorliegend besondere Umstände ein Abweichen von der Regel rechtfertigen. Abweichende Planungen sind gemäß EBO im Einzelfall möglich… Das EBA hat auf der Grundlage der Planung und den Nachweisen der Vorhabenträgerin entschieden. Bei dem neuen Stuttgarter Hauptbahnhof handelt es sich um einen Durchgangsbahnhof, in dem … keine Züge abgestellt werden. Bei diesen Halten werden die Zuggarnituren immer gebremst. Dadurch werden unbeabsichtigte Bewegungen verhindert, besondere Vorkehrungen sind nicht erforderlich.“
Andersen folgert dagegen, dass im Stuttgarter Tiefbahnhof „besondere Anforderungen an die hier haltenden Fahrzeuge“ gestellt werden müssten. Doch genau das wolle das europäische Regelwerk für den Zugverkehr eigentlich verhindern.
Der Stresstest stresst die Bahn offenbar weit mehr als bekannt. Aus Bahnkreisen verlautet, dass das Unternehmen intern die Regelung ausgegeben habe, nur die allernötigsten Maßnahmen umzusetzen, damit der vom Stresstest vorgegebene Kostenrahmen von 4,5 Milliarden eingehalten werden kann. „Es werden ganz viele Maßnahmen geblockt oder gesagt, dass sie nicht in den Stresstest einfließen dürfen“, sagt ein Insider, der nicht genannt werden will. „Die Kosten kämen sonst auf deutlich über fünf Milliarden Euro.“
Ein Beispiel ist die Ein- und Ausfädelung zum Flughafenbahnhof, die zunächst eingleisig geplant war. Dem Insider zufolge werde von der DB-Netz bisher nur die billigste, nicht aber die beste Lösung favorisiert. Eine weitere sinnvolle Maßnahme wäre die Nutzung der Gleise in Feuerbach für eventuelle Störungen im S-Bahn-Bereich. Man könne ein Gleis doch bestens nutzen, damit die in Richtung Norden fahrenden S-Bahnen künftig darauf drehen könnten. Nein, beschied der Konzern, Kosten müssten gespart werden.
Mit dem Herbst 2012 sollte der Umbau des Gleisvorfeldes so weit abgeschlossen sein, dass der Aushub der Baugrube für den neuen Tiefbahnhof beginnen kann. Nach unseren Informationen ist dieser Zeitplan jedoch in Gefahr. Auch der Umbau der S-Bahnrampe liegt offenbar nicht im Zeitplan. All dies hat jedoch nichts mit dem von der Bahn verkündeten Bau- und Vergabestopp zu tun, denn der Umbau des Gleisvorfeldes sei in dieser Zeit regulär weitergelaufen, behauptet der Insider. Der Baustopp war dem Insider zufolge „eine Nebelkerze“.
Auch wenn Oberbürgermeister Wolfgang Schuster ein erklärter Verfechter des Bahnprojekts ist, droht auch von seiner Stuttgarter Stadtverwaltung Ungemach. Die Bahn hatte beim Eisenbahnbundesamt beantragt, mehr als die bereits genehmigten drei Millionen Kubikmeter Grundwasser abzupumpen, um im Trockenen bauen zu können. Der Druck auf die Wasserquellen in der Tiefe soll aber konstant bleiben. Um diesen Druck zu halten, soll ein Großteil des Wassers wieder über Versickerungsstellen in die Tiefe kommen.
Deutlich mehr Wasser in den Baugruben
Die Ingenieure der Bahn rechnen jetzt aber mit deutlich mehr Wasser in den Baugruben, nämlich 6,8 Millionen Kubikmeter. Daher haben sie beim Eisenbahnbundesamt die Genehmigung beantragt, diese Menge abpumpen zu dürfen. Die Behörde hat die Anfrage an die Stadt Stuttgart weitergeleitet. Und dort wird jetzt moniert, es gebe keine Nachweise seitens der Bahn, dass „die höheren Grundwasserentnahmemengen keine nachteiligen Auswirkungen auf die Schüttung der Heil- und Mineralquellen haben“.
Wenn dann im Sommer 2012 das Ausheben der Baugrube beginnt, fallen gigantische Mengen von Erdaushub an. Die Eisenbahner haben noch keine Entscheidung getroffen, was mit dieser Erde passieren soll. Geplant ist bisher, sie mit Lastwagen über eine neue Straße zum Nordbahnhof zu transportieren. Dort soll sie auf Züge verladen und nach Ostdeutschland gefahren werden. Nur: dafür müssen diese Züge den Pragtunnel passieren und die S-Bahn queren. Und das geht nur außerhalb der Hauptverkehrszeit. Die Erde müsste also am Abend oder nachts auf die Reise geschickt werden, sonst fallen S-Bahnen aus. Das erhöht wiederum die Kosten, vor allem aber muss der Aushub am Nordbahnhof gelagert werden.