: Nachbarschelte bei Moskauer Siegesfeier
Am Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus kritisiert Russlands Präsident Putin Estland und die EU
MOSKAU taz ■ Russland beging den Tag des Sieges wie in jedem Jahr ausgelassen und fröhlich. Der Sieg über den „Hitlerfaschismus“ ist ein riesiges Volksfest und der wichtigste sinnstiftende Feiertag in Russland seit den 60er-Jahren. Alle feiern, als wäre der Sieg erst gestern errungen worden. Auf dem Roten Platz nahm Präsident Wladimir Putin die Parade der mehr als 7.000 vorbeimarschierenden Soldaten ab. Erstmals waren die Veteranen an der Parade nicht mehr aktiv beteiligt. Der jüngste „frontewik“ zählt inzwischen 82 Jahre.
Präsident Putin ist seit Beginn seiner Amtszeit bemüht, das militärische und historische Erbe wieder in den Vordergrund der Kremlpolitik zu stellen. So nahm er die Gelegenheit auch wahr, im Streit um die Verlegung eines Kriegerdenkmals in Tallinn den Esten die Leviten zu lesen. Wer die Monumente für die Helden des Krieges besudele, säe Zwietracht zwischen den Völkern und beleidige auch das eigene Volk. Konfrontation und Extremismus entstünden in Friedenszeiten, sagte Putin. Die Bedrohungen kämen heute nur in einer anderen Verpackung daher.
Die Mahnung richtete sich gegen Estland und die EU, die Moskau kritisiert hatte, nachdem nichts gegen die Blockade der estnischen Botschaft in der letzten Woche unternommen wurde. Kremlnahe Jugendliche belagerten die Mission und machten Jagd auf die Botschafterin. Die paramilitärischen Stoßtrupps handelten offensichtlich im Auftrage einer höheren Instanz.
In Tallinn verlief der Feiertag ohne Zwischenfälle. Estland bat Moskau am Vorabend der Feierlichkeiten, bei der Identifizierung der sterblichen Überreste der umgebetteten Soldaten behilflich zu sein. Moskau lässt sich mit der offiziellen Antwort Zeit. Die staatlichen Medien griffen den Versuch Tallinns, die Wogen zu glätten, auch nicht auf.
Der Konflikt um den „Bronzenen Soldaten“ erfüllt innenpolitisch denn auch andere Funktionen als nur die Mahnung, mit der Erinnerung an die Gefallenen würdevoll umzugehen. Die abweichende Auffassung im Baltikum und in osteuropäischen Ländern über die Rolle der UdSSR als Befreier wird vom Kreml instrumentalisiert. Daher auch der haltlose Vorwurf Putins, der Westen deute die Geschichte um und mache den Sowjets den Sieg streitig. Er schwört die Bevölkerung auf ein Festungsdenken ein, als stünden wieder Feinde vor den Toren Moskaus. Wer wagt, die Führung zu kritisieren und mehr Demokratie einzufordern, macht sich nicht nur verdächtig, er verlässt auch den kollektiven Konsens und wird zum Volksfeind.
Tatsächlich geht es vor allem um die Sicherung der Macht im Kreml. Bedrohungsszenarien wirken Wunder und lassen sich reflexartig abrufen – nicht zuletzt, weil die Geschichtskenntnisse über das 20. Jahrhundert in Russland lückenhaft sind.
Der Hitler-Stalin-Pakt, der russische Überfall auf Finnland, die Annexion der Balten und deren Leiden in sibirischen Gulags sind weiße Flecken geblieben und Orte für eine blühende Legenden- und Mythenbildung. Der jahrzehntelang kanonisierten Erinnerungskultur sind Fakten ohnehin nicht gewachsen. Der Sieg ist das Einzige, das die atomisierte russische Gesellschaft verbindet. Daher rührt die Inbrunst, mit der Mythen verteidigt werden. Sie ist aber auch Ausdruck einer fehlenden Zukunftsvision.
KLAUS-HELGE DONATH