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berliner szenen Ignorieren lernen

Neuköllner Bodenblick

Auf dem Weg zum türkischen Supermarkt auf der Hermannstraße trete ich in eine Blutlache. Von dort führt eine Blutspur bis vor eine Haustür hundert Meter weiter. Das Blut scheint noch frisch zu sein, es glitzert. Ich folge dem Beispiel meiner Mitpassanten und ignoriere es. Die Sonne scheint, die Luft beißt. Bolu hat ein Plastikzelt vor dem Laden um Gemüse und Obststände herum errichtet, gegen die Kälte. Ein paar schnurbärtige Männer stehen mit Plastikbechern um einen Ofen mit Blechpfanne herum, auf dem Maronen geröstet werden. Es ist fast schon wieder vorweihnachtlich. An der Kasse störe ich eine schöne Kassiererin dabei, wie sie sich einen Pickel mit Hilfe des Spionspiegels ausdrückt.

„Fass mich nicht an, oder es ist das Letzte, das du anfasst“, zischt ein junger Mann seiner Freundin zu, als ich die Hermannstraße weiter heruntergehe. Es ist viel Betrieb. Menschen mit Plastiktüten, Kinderwägen oder Rollkoffern sind unterwegs. Die kalte Luft riecht nach altem Fett und Hundescheiße. Es gibt keinen Blickkontakt auf dieser Straße. Jeder läuft zügig, mit Blick auf den Boden gerichtet. Wenn man nicht aufpasst, wird man angerempelt, geschubst und angemeckert. Ich bin sogar schon einmal angebellt worden. Von zwei Mädchen. „Was stehste denn so blöd im Weg rum“, krächzt eine alte Dame, die mir mit ihrer Rolltasche über den Fuß fährt. Ich zucke zusammen. Wie das Blut vorher versuche ich sie zu ignorieren, aber ich merke, wie eine unsagbare Aggression in mir hochkommt. Ich will schreien oder jemanden schlagen. „Tief durchatmen, auf den Gehweg schauen, loslaufen, geht schon“, sage ich mir. Und plötzlich bin ich auch so eine Person, die verbiestert mit Blick auf den Boden durch Neukölln wandert. MAREIKE BARMEYER

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