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Archiv-Artikel

„Es könnte peinlich werden“

STORYTELLING Fußballspiele zu kommentieren ist wie Geschichten zu erzählen, behaupten zwei Drehbuchautoren. Die Deutschen schwächeln in dieser Disziplin

Die Drehbuchautoren

Katti Jisuk Seo und Mark Wachholz arbeiten als Drehbuchautoren und Storyconsultants in Berlin. Sie beraten Autoren und begleiten die Entwicklung von Film- und Serienprojekten. In ihrem gemeinsamen Essay „Fußball, Storytelling und der deutsche Film“ haben sie ihre Filmkenntnisse bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 angewendet, um den Stil der TV-Kommentatoren in Deutschland und in Großbritannien gegenüberzustellen und um auf generelle Schwächen der deutschen Erzählkultur hinzuweisen.

INTERVIEW JENS MAYER

taz: Frau Seo, Herr Wachholz, Sie sind Drehbuchautoren und haben die Fußballkommentatoren von ZDF und BBC im WM-Spiel Deutschland gegen Brasilien verglichen. Was hat Fußball mit Dramaturgie zu tun?

Mark Wachholz: Einiges: Die Spannung, die Deadline, die Emotionalisierung – daraus kann man schließen, dass die Kommentierung eines Spieles auch etwas mit Storytelling zu tun hat.

Wie kamen sie auf die Idee, den ZDF-Kommentator Béla Réthy mit den Kollegen des britischen Fernsehens zu vergleichen? Wachholz: Die Idee reicht zurück zum 4:1 Sieg der deutschen Mannschaft gegen die englische Mannschaft bei der WM 2010. Aus Interesse habe ich mir anschließend die Version der britischen Fernsehübertragung angeschaut und dabei gemerkt, dass sie mich unheimlich gefesselt hat, ohne zu wissen, warum. Mit der Kommentierung in Deutschland war ich schon eine Weile lang nicht zufrieden, die war mir zu statistiklastig. Nach dem noch spektakuläreren Spiel im diesjährigen WM-Halbfinale habe ich mich daran erinnert. Ich wollte überprüfen, was die Engländer aus diesem Spiel gemacht haben.

Wo liegen die größten Unterschiede zwischen den beiden Kommentaren?

Katti Jisuk Seo: Die Briten machen aus ihrem Kommentar eine Story, während der deutsche Kommentar sehr tatsächlichkeitsfixiert ist. Und wenn er versucht zu narrativieren, scheitert er. Die Briten werfen Fragen auf, die sie wieder beantworten, während der deutsche Kommentar auf die Fragen verzichtet. Dementsprechend werden Antworten nur auf ungestellte Fragen gegeben, sodass sich das Ganze sofort verläuft. Die Briten schauen immer in die ungewisse Zukunft, das macht es viel spannender.

Wachholz: Das ist der Punkt: Die britischen Kommentatoren sind zukunftsfixiert: Was passiert als Nächstes? Wie geht das Ganze aus? Während der deutsche Kommentar vergangenheitsfixiert ist: Was ist gerade passiert? Was ist vor vier Jahren passiert? Der Kontext liegt in der Vergangenheit oder maximal in der Gegenwart.

Der Kommentar zu einem Fußballspiel ist journalistische Arbeit, warum kreiden Sie fehlende Erzählstrukturen an?

Seo: Ich würde nicht zwischen Fiktion und Realität trennen. Denn auch die Realität wird interpretiert und erst dadurch erhält sie eine bestimmte Lesart. Die Aussage „Ich sehe: Tisch, Stein und Mauer“ generiert keine Bedeutung. Wenn der Kommentator des Spiels lediglich sagt: „Marcelo. Lahm. Freistoß“, dann sagt er nichts anderes als das, was wir ohnehin schon sehen.

Wacholz: Die hiesigen Kommentatoren holen immer wieder Statistiken hervor, aber spannende analytische Aspekte des Spiels erkennen sie nicht.

Seo: Die Briten dagegen haben in ihrem Kommentar viele Dinge schon sehr früh benannt. Beispielsweise die „Oceans Of Space“ – die Möglichkeitsräume in der brasilianischen Hälfte.

Wachholz: Aus Unterhaltungssicht gibt es keinen Grund, Dinge nicht zu narrativieren. Gerade wenn es um ein großes Spektakel wie Fußball geht, bei dem man die Zuschauer erreichen und die Begeisterung übersetzen will. Dazu kommt, dass die deutschen Kommentatoren das ja sogar versuchen, aber sie können es leider nicht. Das ist mir besonders im Finalspiel aufgefallen, als Tom Bartels versucht hat, das Heldentum anhand von Schweinsteiger zu erzählen. Er geht voll in die Narrativierungsschiene rein, scheitert aber, weil er nicht geübt darin ist.

Mit Prognosen steigt allerdings auch das Risiko, falsch zu liegen.

Seo: Man stellt Hypothesen auf, um sie zu überprüfen. Wenn sie nicht eintreffen, heißt es ja nicht, dass man ein schlechter Kommentator ist. Man vermutet etwas und erwartet zusammen mit dem Publikum gespannt, ob das richtig ist. Das ist kein Versagen, sondern ein erfolgreiches Überprüfen einer Hypothese.

Wachholz: Wenn Toni Kroos das 3:0 schießt, sagt der BBC-Kommentator in der Sekunde vorher „It could be embarrasing“ – und hat recht, weil der Ball reingeht. Allerdings ist es knapp, der Torwart kommt noch ran. Wenn der Torwart ihn aber gehalten hätte, wäre es ja trotzdem spannend gewesen, nach dem Motto: „Es könnte peinlich werden, aber nein, César hält den Ball und spielt ihn ins Aus. Wahnsinn!“

Sehen Sie hier eine grundsätzlichen Skepsis gegenüber Erzählungen – vielleicht aus Angst vor Manipulation?

Seo: Es herrscht eine extreme Emotionalisierungs- und Manipulationsphobie, eine Fixiertheit auf Fakten und die Angst davor, dass etwas unecht wird, wenn man es zur Erzählung macht. Deswegen herrscht die Meinung, man solle lediglich Fakten zusammentragen, die der Zuschauer dann selbst interpretieren muss. Das wird dadurch genährt, dass im deutschen Film die gesellschaftliche Relevanz enorm wichtig ist, wenn es um Themen wie Holocaust oder Kinderarmut geht, dann hat ein Film eine Relevanz, und ein Actionfilm wie „Stirb langsam“ hat keine Relevanz. Das ist eine grundsätzliche Haltung. Es wird sich verweigert, darin eine Bedeutung zu sehen.

Sie machen einen Schnitt der deutschen Erzählkultur mit dem Neuen Deutschen Film.

Wachholz: Dass es nach 1945 einen Schnitt und eine Skepsis gegenüber der manipulierten und überhöhten Erzählung gab, ist nachvollziehbar. Wobei die Erzähltradition in Heimatfilmen oder in Edgar-Wallace-Filmen ja zunächst beibehalten wurde. Interessant ist der Fußballkommentar von 1954, von dem bis heute alle schwärmen. Herbert Zimmermanns Ausspruch „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen“ ist vorwärtsorientiert und auf die ungewisse Zukunft ausgerichtet.

Seo: Auf unsere Darstellung, dass der britische Kommentar im WM-Halbfinale die „Oceans of Space“ – diese tickende Zeitbombe in der brasilianischen Hälfte – erkennt und eine Vorausschau gibt, haben wir viele skeptische Reaktionen erhalten. Es wäre doch viel besser, wenn man das nicht vorgekaut bekäme, wenn man es als Zuschauer selbst entdecken würde. Doch es wird missverstanden, dass es trotzdem einen Erzähler geben kann, der etwas deutet, an das man anknüpfen kann und, dass es viel mehr zur Entdeckung von neuen Bedeutungsräumen führen kann als eine Nullinformation. Wenn ich die Interpretation eines anderen höre, fange ich auch an, selbst zu interpretieren. Ich kann auch gegeninterpretieren.

Und was ist, wenn die Mehrheit der deutschen Zuschauer das einfach nicht will?

Seo: Im Film und Fernsehen wird von den Zuschauern die amerikanische Erzählweise bevorzugt. Das Bedürfnis ist also da. Auf der anderen Seite erlebe ich von Zuschauern oft diese Haltung, dass man diese Emotionalisierung nicht haben möchte, sondern die Fakten zusammengetragen werden sollen.

Wachholz: Geschichtenerzählen gehört zum Menschsein, es ist eine Grundeinstellung im Kopf. Studien belegen, dass das Gehirn ständig narrativiert, weil es interpretieren muss, was es sieht. Deshalb sprechen uns Storys an.

Die dreiteilige Analyse „Fußball, Storytelling und der deutsche Film“ ist seit kurzem online unter genrefilm.net zu finden