: „Jede Suppe hat ihre Zeit“
FLÜSSIG Der Suppenhistoriker Dieter Froelich über Brechbohnenpampe, die Lebenserfahrung von Gemüse und den emanzipatorischen Aspekt des Brühwürfels
■ 55, lebt in Hannover, ist Künstler, Kulinarikexperte und Suppenhistoriker. Seit 2003 ist er Gastgeber des halbprivaten Speiselokals „Restauration a.a.O.“, des wahrscheinlich ersten Supper-Klubs Deutschlands. Sein Buch „Supen. Getränk, Brühe, Sülze, Mus, Suppe, Eintopf. Eine Betrachtung der flüssigen Speisen“ ist im Tinto-Verlag erschienen.
INTERVIEW JÖRN KABISCH
taz: Herr Froelich, Sie haben ein ganzes Buch zu flüssigen Speisen geschrieben. Warum das?
Dieter Froelich: Das Wässrige ist die Grundform unserer Nahrungsmittel. Das beginnt schon bei der ersten Speise des Menschen, dem Blut und der Milch der Mutter. Wir können uns über relativ lange Zeit ohne feste Nahrung am Leben halten, ohne Flüssigkeit dagegen sterben wir innerhalb von Tagen. Getränk, Schleim, Suppe, Brei, Mus und schließlich das Teigige sind verschiedene Kategorien des Flüssigen.
Flüssige Speisen sind also Durstlöscher und Hungerstiller in einem?
Besonders interessant sind dabei die Übergangszonen. Zum Beispiel: Wann gilt etwas als Getränk und ab wann wird es zur Suppe? Die Grenzen sind im wahrsten Sinn des Wortes fließend.
Haben Sie ein Beispiel?
An der feudalen Tafel wurden Fruchtkaltschalen zur Erfrischung oftmals im Teller als zweite Suppe serviert. Schaut man sich die entsprechenden Rezepte an, so fällt auf, dass wir sie nach heutigem Verständnis als Bowlen bezeichnen würden. Unser Punsch, Glühwein oder die Altbierbowle haben Vorläufer, die aus dem Teller gelöffelt wurden. Heute finden wir auf vielen Speisekarten außerdem einen „Espresso von Hummeressenz“ oder einen „Latte macchiato von Erbsen und Pfifferlingen“.
Warum lautet der Titel Ihres Buches „Supen“ – nur mit einem „p“ geschrieben?
Es ist der ursprüngliche mittelhochdeutsche Begriff für „Saufen“, aus dem sich „Suppe“ entwickelt hat. Das Buch ist Teil einer Reihe über verschiedene Grundformen der Nahrung. Vor Jahren habe ich begonnen, das Gedankengebäude von den „Archetypen der Speisen“ zu errichten – im Grenzgebiet von Wissenschaft und bildender Kunst. Eine Kategorie sind die flüssigen Speisen, eine andere zum Beispiel „Gemengsel und Gehäcksel“.
Kann man die Suppe als Königin der flüssigen Speisen bezeichnen?
Bei der Suppe ist der Spannungsbogen vielleicht am größten. Sie kann Luxusgericht wie Armenspeise sein. Der französische Gastronomiekritiker Grimod de la Reynière meinte Anfang des 19. Jahrhunderts, sie sei für das Mahl, was die Ouvertüre für die Oper ist. Und fast gleichzeitig entwickelte Benjamin Graf Rumford die später nach ihm benannte Armensuppe. Sie bestand aus Wasser, Gerstengraupen, Erbsen, Kartoffeln, Weizenbrot, Essig und Salz und wurde in vielen öffentlichen Suppenküchen verteilt. An der feudalen und bürgerlichen Tafel mag die Suppe eine Königin gewesen sein, für allzu viele aber steht sie bis heute für Mangel und Armut.
Jeder Mensch hat eine Ursuppenerfahrung. Ich bin in den Siebzigern geboren und denke an Schildkrötensuppe aus der Dose, die damals in Westdeutschland sehr modern war.
Meine ersten Suppenerfahrungen sind alles andere als positiv besetzt. Ich bin 1959 geboren und stamme, wie man so schön sagt, aus sehr einfachen Verhältnissen. Meine Mutter ist aus Ostpreußen geflüchtet und musste als Alleinerziehende drei Kinder ernähren. Es gab oft „Zusammengekochtes“: In einen Topf wurde das geworfen, was da war. Leider hatte das wenig mit dem wunderbaren Pot-au-feu zu tun. Mein absoluter Horror war der „Brechbohneneintopf“. Die grünen Bohnen waren zu dieser Zeit noch mit ziemlich widerstandsfähigen Fäden ausgestattet und der im Krieg erlittene Nahrungsmangel der Mutter zeigte sich in einem unerbittlichen „Es wird aufgegessen!“. So sammelte sich die fadige Bohnenpampe in der Backentasche des Siebenjährigen und der Name Brechbohne bewahrheitete sich.
Was ist Ihr Rezept für eine gute Suppe?
Christoph Wilhelm Hufeland, der Vater der deutschen Makrobiotik, hat Ende des 18. Jahrhunderts etwas sehr Zutreffendes über das Kochen gesagt: „Das Kochen erweicht die Nahrungsmittel, löst die auflösbaren Bestandteile auf und teilt sie dem Wasser mit.“ Kochen als Informationsaustausch – das wird besonders bei den Brühen deutlich. Junges Gemüse und junge Tiere ergeben keine gute Brühe, weil ihnen die Lebenserfahrung fehlt, die sich als Information in die Körper schreibt. Und natürlich ist es wichtig, welcher Art diese Erfahrungen sind. Eine Legebatterie schreibt sich anders in das Wesen als eine Wiese.
Wie bereiten Sie eine Gemüsebrühe zu?
Ich empfehle ein Gewichtsverhältnis von zwei Teilen Gemüse zu drei Teilen Wasser. Zwei Scheiben altbackenes Weißbrot, in Butter gebraten – in den Teller gegeben und mit heißer Brühe aufgefüllt: Das ist großartig.
Was ist mit dem Faktor Zeit?
Im Sinne des guten Informationsaustausches: Jede Suppe hat ihre Zeit. Eine gebrannte Mehlsuppe braucht maximal eine halbe, eine Gemüsebrühe zwei bis drei Stunden. Eine Fleischbrühe sollte schon drei bis vier Stunden köcheln. Über den Pot-au-feu und die Olla podrida kursieren sogar Berichte, dass dieser Eintopf in alter Zeit über mehrere Jahre am Köcheln gehalten und immer wieder aufgefüllt wurde.
Viele Menschen kennen die Suppe heute als Schnellgericht. Sie besuchen zur Mittagspause Suppenküchen, zu Hause kommt der Brühwürfel oder die Tütensuppe zum Einsatz. Gibt es so etwas wie den Maggi-Knick in der Suppenkultur?
Nicht unbedingt. Die Geschichte der Würzsaucen reicht weit zurück. Schon die alten Griechen benutzen „gáros“, das bei den Römern zum „Liquamen“ wurde. Beide bestanden hauptsächlich aus fermentiertem Fisch. Sojasauce war im 19. Jahrhundert bereits als Importware bekannt. Trotzdem löste der durch Justus von Liebig industriell hergestellte Fleischextrakt wahre Lobeshymnen aus. Man sollte dieses Phänomen unter gesellschaftlichen Aspekten sehen. Kochen war damals Frauensache. Das war das traditionelle Familienverständnis. Und Erfindungen wie die von Liebig brachten große Erleichterungen mit sich. Auch wenn ich kein Freund von Tüten-, Tiefkühl- oder Dosengerichten bin, den emanzipatorischen Aspekt sollte man nicht unter den Tisch fallen lassen.
Darf man Suppe schlürfen? Warum machen das die Asiaten und wir nicht?
Es heißt, durch die Luft im Mund können sich die Aromen besser im Mund ausbreiten. Das ändert aber nichts daran, dass das Schlürfverbot ein elementarer Bestandteil der europäischen Tischsitten ist. Mit zunehmendem Alter schätze ich gewisse Umgangsformen.
■ Essecke: Jörn Kabisch befragt auf dieser Seite einmal im Monat Praktiker des Kochens. Außerdem im Wechsel: unsere Korrespondenten, die erzählen, was man in ihren Ländern auf der Straße isst, Philipp Maußhardt über vergessene Rezepte und Sarah Wiener, die aus einer Zutat drei Gerichte komponiert