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Archiv-Artikel

Natürlich gab es auch Geschichten von Sex und Liebe

PORTRÄT Mit „Wildauge“ hat Katja Kettu die finnische Literaturszene nachhaltig aufgemischt. Im Zentrum ihres Romans: die Beziehungen deutscher Besatzungssoldaten zu Finninnen. Kettu ist einer der Stars der Frankfurter Buchmesse

VON KATHARINA GRANZIN

Schon immer, sagt die finnische Autorin Katja Kettu, habe sie Schriftstellerin werden wollen. „Bestimmt seit ich fünf Jahre alt war.“ Sie habe schon als Kind gern geschrieben, war von Wörtern fasziniert. Seltene Wörter habe sie ebenso gesammelt wie Steine, die ihr gefielen. Doch ihren Berufswunsch durchzusetzen, war nicht so leicht. „Die Berufsberaterin in der Schule sagte, na ja, du bist ein Mädchen. Und du bist aus Lappland. Werde doch Sekretärin!“

Die 36-Jährige lacht kurz auf: „Dabei war es nicht einmal so, dass ich schlecht in der Schule gewesen wäre. Ich war eine gute Schülerin, sie hätte mir ja auch ein Studium empfehlen können!“ Ohne Hilfe der Berufsberaterin bewarb Katja Kettu sich dann nach dem Abitur um einen Platz an der Kunsthochschule in Turku, an der Südwestküste Finnnlands. Sie wollte Animationsfilm studieren.

Zielstrebig und hartnäckig

„Das kam mir entgegen, weil darin vieles steckte, was mich interessierte. Malen, filmen, Geschichten erzählen.“ Sie begann Erzählungen zu veröffentlichen, ihr erster Roman entstand. Er handelte – „Überraschung!“, sagt sie selbstironisch – von einer jungen Frau, die von Nord- nach Südfinnland zieht und Steine sammelt. Kettu hat in ihrer eigenen Wahrnehmung keineswegs eine märchenhafte Senkrechtstarter-Karriere hingelegt, auch wenn das andere in Finnland so sehen mögen. Ihr derzeitiger Erfolg ist das Ergebnis ernsthafter Arbeit ist. Einen kleinen Preis habe sie damals zwar schon bekommen für jenen ersten Roman. Aber dann habe sie erst einmal ordentlich Literatur studiert. „Um eine wirklich Autorin werden zu können, musste ich mir erstmal das Werkzeug aneignen, das ich dafür brauchen würde.“

Diese Zielstrebig- und Hartnäckigkeit scheint sich für Kettu ausgezahlt zu haben, auch wenn sie einen langen Atem brauchte. Während ihr zweiter Roman (er handelte von einem fünfzigjährigen Schweißer, dessen einziger Freund ein Eichhörnchen ist) völlig unbeachtet blieb, hat sie mit ihrem dritten Roman „Wildauge“ den Durchbruch geschafft. Die Handlung spielt in Lappland während des Krieges. Der Roman macht sie nun zum Vorzeigefräulein der finnischen Literatur.

Auftritte in Norwegen, in Deutschland auf der Frankfurter Buchmesse, Frankreich und Spanien stehen für diesen Monat auf dem Programm, Italien und Schweden waren kürzlich an der Reihe. Sie wird den ganzen September und Oktober viel unterwegs sein, sagt sie. Nach unserem Treffen in Berlin ging es weiter nach Norwegen: „Sie lieben mich einfach in Norwegen,“ sagt sie mit leichter Ironie. Norwegen, Lappland und Finnland das ist natürlich ein besonderes Thema.

Beide Länder begannen sich in den letzten Jahren erst mit Kriegszeit und deutscher Besatzung stärker zu beschäftigen. In Finnland sind es gerade die jungen Frauen unter den AutorInnen, die sich des Kriegsthemas besonders angenommen haben. Katja Kettus Interesse an der Vergangenheit hat auch mit ihrer Familiengeschichte zu tun, mit der Lektüre der Briefe, die ihre Großmutter während des Krieges an ihre Mutter und Tante schrieb.

„Sie war damals in vorderster Frontlinie. Sie arbeitete als Tresenkraft, verkaufte Essen.“ Träumte aber gleichzeitig, wie die Briefe zeigen, von einem anderen Leben, wünschte sich eine Karriere als Schauspielerin, wollte reisen und die Welt sehen. Diese Stärke habe sie sehr beeindruckt, als sie die Briefe las, sagt die Enkelin. „Dieser Optimismus! Zu einer Zeit, als man nicht einmal wusste, ob man den nächsten Tag erleben wird.“

Die lappländische Liebesgeschichte zwischen der einheimischen Krankenschwester und dem deutschen SS-Offizier, die „Wildauge“ nun erzählt, ist nicht die Geschichte ihrer Großmutter.

Und doch: „Damals waren 200.000 deutsche Soldaten in Lappland stationiert. Natürlich hatten viele von ihnen Beziehungen zu Einheimischen. Natürlich gab es auch Liebesgeschichten.“ Bedrängt von der Sowjetunion kooperierte Finnland mit dem Dritten Reich. Als die Nazis 1941 den Hitler-Stalin-Pakt aufkündigten und die Sowjetunion angriffen, versuchte die finnische Armee an der Seite der deutschen, das von der Sowjetunion besetzte Karelien zurückzugewinnen. 1944, vor Zusammenbruch des Dritten Reichs, wechselten die Finnen erneut die Seite und kämpften nun gegen die Deutschen, die im Lapplandkrieg was sie konnten zerstörten.

Tabuisierte Beziehungen

Nach 1945 wurden finnische Frauen, die Beziehungen zu Deutschen unterhielten, interniert, des Landesverrats angeklagt und oft jahrelang gefangengehalten. „Das war sehr heuchlerisch,“ sagt Kettu, „denn in Regionen wie Lappland hatten sich wirklich alle in irgendeiner Art mit den Deutschen eingelassen.“ Sie habe aber nicht nur über das Unrecht schreiben wollen, das den Frauen angetan wurde, „sondern vor allem auch darüber, wie sehr man in schrecklichen Zeiten etwas findet, um der Dunkelheit zu entfliehen.“

Das, woran die Protagonistin des Romans sich vor allem festhält, ist Sex. Sie verliebt sich in einen jungen, durch seine Kriegserlebnisse massiv traumatisierten SS-Offizier, der sich in der Beziehung zu der deutlich älteren Krankenschwester eher passiv verhält. Um so aktiver stürzt die Frau sich in die Affäre. In Finnland wurde Kettus Roman wegen der sehr expliziten Sexszenen recht kontrovers aufgenommen. Die Ansichten seien in dieser Frage stark auseinandergegangen, gibt sie zu. „Aber ich habe diesen Roman nicht deswegen so geschrieben, weil ich damit schockieren wollte. Diese Frau ist für die damalige Zeit sehr alt dafür, dass sie noch nicht verheiratet ist. Etwa so alt wie ich, übrigens. Aber sie ist noch nie berührt worden, war noch nie verliebt.“ Sie habe eine ungeschönte, ungefilterte Darstellung der weiblichen Lust geben wollen. Überdies spiele der Roman im Krieg: „Das ist keine Zeit, in der man Händchen hält. Man braucht das Ganze.“

Die deutsche Ausgabe von „Wildauge“ wird von einem Nachwort der Übersetzerin Angela Plöger begleitet, die zum einen den historischen Kontext der chronologisch nicht linear erzählten Handlung erläutert, aber auch erklärt, welchen Herausforderungen sie ausgesetzt war beim Übersetzen dieses Romans, dessen Autorin nicht nur eine Sammlerin seltener Worte ist, sondern auch keine Scheu hat, selbst neue zu erfinden.

Der ausgeprägte Drang, eine eigene Sprache zu finden, weist Kettu eine gewisse Sonderrolle in der finnischen Literatur zu. Sie selber sieht am ehesten noch Gemeinsamkeiten mit der eine Generation älteren Rosa Liksom, die ebenfalls aus Lappland stammt. Ansonsten sieht sie sich in der Tradition ihrer Großmutter, die ebenfalls „unglaublich kreativ mit Worten“ umgehen konnte. Doch jetzt hat die Großmutter Alzheimer und hört sich zunehmend an wie „wie eine kaputte Schallplatte, die Tag für Tag kaputter wird.“

Katja Kettu selbst lebt schon lange nicht mehr in Lappland. Doch sie ist stolz auf ihre Herkunft ganz aus dem Norden. Lappland sei ein „state of mind“, man habe von dort aus eine andere Perspektive auf die Welt. Auch wenn sie es „momentan“ besser fände, in Helsinki zu leben, „wo es nicht ganze sechs Monate im Jahr nur Dunkelheit und Schnee gibt.“

Katja Kettu: „Wildauge“. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Galiani Verlag, Berlin 2014, 416 Seiten, 19,99 Euro