Der Zusammenhang der Gefühle

LIEDGUT Der Elektronikmusiker Nicholas Bussmann und der Neue-Musik-Komponist Chico Mello sind Telebossa. Über freie Improvisation und elektronische Musik suchen sie einen neuen Zugang zu brasilianischen Klassikern

Das Projekt ist die Kombination von Bossa- oder Samba- Standards und Improvisationsspiel

VON TIM CASPAR BOEHME

Zugegeben, die Kombination ist heikel. Vom Wort „Brasil“ aus dem langgezogenen „i“ unvermittelt in Obertongesang zu wechseln, könnte bei erwartungshaltungsgeschädigten Ohren zu spontanem Weghören führen. Doch wenn Chico Mello, die eine Hälfte des Berliner Duos Telebossa, mit seiner Stimme von dieser in der lateinamerikanischen Musik eher ungewöhnlichen Technik Gebrauch macht, ist dies nur ein weiteres Element unter vielen Verfremdungsverfahren, sich die brasilianische Tradition aus einer neuen Perspektive anzueignen, wie sie es auf ihrem soeben beim experimentellen Label Staubgold erschienenen Debütalbum vormachen.

Chico Mello und Nicholas Bussmann waren lange Zeit fester Bestandteil der freien Berliner Improvisationsszene. Songs oder Lieder sind dort eigentlich nicht verbreitet. Mit gutem Grund, wie der Cellist Bussmann findet: „Die Improvisation zieht gegenüber der Melodie ganz klar den Kürzeren. Wenn man in so einem Kontext plötzlich ‚Can’t Get You Out of My Head‘ von Kylie Minogue spielt, ist alles andere darum herum nur noch Raumausstattung. Deswegen ist die Verknüpfung tatsächlich schwierig.“

An eine solche Verknüpfung haben sich Telebossa gewagt, das Projekt ist genau genommen nichts anderes als die Kombination von Bossa- oder Samba-Standards und Improvisationsspiel. Für keinen der Beteiligten war die Verbindung völlig überraschend. Bussmann kuratiert seit zwölf Jahren den Liebeslieder-Wettbewerb „Grand Prix d‘Amour“ und ist überzeugt: „Eine Melodie veraltet nicht.“ Mello, der an der Hochschule der Künste bei dem avantgardistischen Komponisten Dieter Schnebel studierte, war schon früh vom Liedersingen begeistert.

„Als ich Ende der Achtziger nach Berlin kam, bewegte ich mich in der Kompositionsszene“, so Mello. „Und populäre Musik war ziemlich verpönt. Ich habe damals in Bars gesungen, wenn Freunde vorbeikamen, galt ich als Exot. Aber diese Verbindung von populärer und experimenteller Musik hat mich immer fasziniert.“ Hinzu komme die identitätsstiftende Funktion von Musik, die beim Pop viel stärker ausgeprägt sei als bei akademischer Musik, was sich auch in Mellos musikalischer Biografie abzeichnet: „Die ursprüngliche Motivation beim Musikmachen war für mich immer, Lieder zu singen.“

Wenn man die Neufassungen auf ihrem Album hört, glaubt man ihm diese Motivation sofort. Chico Mello hat eine dieser diskret warmen, unaufdringlich schönen Stimmen, wie sie für die Bossa entscheidend sind. Vergleiche mit brasilianischen Legenden wie Joao Gilberto oder Caetano Veloso braucht er nicht groß scheuen. Mit einer sparsamen Besetzung aus Gitarre, Cello und einer Reihe merkwürdiger Nebengeräusche aus dem Computer haben die Arrangements die richtige Sprödigkeit, um keinen sentimentalen Bombast entstehen zu lassen.

Zwar geht es Telebossa in ihren Versionen ganz klar um Gefühle, aber selbst diese stehen in einem veränderten Zusammenhang. Das zeigt sich besonders an der Länge der Stücke. „Amoroso“ etwa, der letzte Titel, dauert knapp dreizehn Minuten. Stärker als die Melodien interessiert Mello dabei der zeitliche Aspekt von Songs: „Es geht um die Verbindung von Gefühlen und Zeitwahrnehmung und die Veränderung der Gefühle im Verlauf der Zeit.“

Die leicht akademische Beschreibung verrät Mellos Werdegang: Nach einem Medizinstudium und einer Zeit als Psychoanalytiker begann Mello zunächst ein privates Musikstudium, bis er sich entschied, nach Berlin zu gehen und dort Komposition zu studieren. Damit nicht genug: Vor wenigen Monaten erst erschien seine musikwissenschaftliche Dissertation zum Thema „Mimesis und musikalische Konstruktion“.

Bussmann hingegen studierte überhaupt nicht, ist reiner Autodidakt. Für Mello, der seine akademische Rüstung sonst nicht groß vor sich herträgt, passt das gut zusammen: „Das verbindet uns sehr. Er hat nie studiert, ich habe viel zu viel studiert.“ Bussmann beschäftigte sich unterdessen viel mit elektronischer Musik, was man nicht nur an den zahlreichen Effekten merkt, die er sehr subtil in die Arrangements eingearbeitet hat, sondern auch am Umgang mit seinem eigenen Instrument: „Wenn ich mein Cello spiele, denke ich ganz anders, als ich das vor zwanzig Jahren gemacht habe. Ich denke jetzt sehr stark in Aspekten von Klang.“

Und der Obertongesang? Mello erinnert sich, dass er sich diese Technik einmal für eine Aufführung von „Stimmung“, ein Vokalstück des Komponisten Karlheinz Stockhausen, angeeignet habe. Verfeinern konnte er seine Fertigkeiten, als er einige Jahre später wegen eines Stipendiums regelmäßig von Berlin nach Paris reiste. „Ich bin die Strecke immer mit dem Auto gefahren, das war sehr langweilig. Da habe ich immer diese Übungen gemacht. Und irgendwann habe ich es gelernt.“

■ Telebossa: „Telebossa“ (Staubgold); Chico Mello: „Mimesis und musikalische Konstruktion“. Shaker Verlag, Aachen 2011, 306 Seiten, 49,80 Euro