: Unsichtbare Kinder, voller Scham
SonderschülerInnen müssen mit vielen Stigmata leben: Weil sie arm sind und Lernschwierigkeiten haben, werden sie zu „Behinderten“ gemacht
Das Hamburger Zwei-Säulen-Modell aus Gymnasium und Stadtteilschule findet Lob, auch unter Experten. Von einem historischen Kompromiss ist die Rede. Selbst engagierte Befürwortern der Schule für alle können sich mit dem „Zwischenschritt“ anfreunden.
Dies ist wohl nur möglich, weil die Leidtragenden, die dem Kompromiss geopfert werden, einmal mehr vergessen werden und unsichtbar bleiben. Das sind alle SonderschülerInnen, insbesondere diejenigen, die als sogenannte Lernbehinderte ausgesondert werden. In anderen Ländern gibt es diese Klassifikation längst nicht mehr, deren Kinder lernen im Regelschulsystem.
Schon 1973 hatte der Deutsche Bildungsrat die Überwindung der „Selektions- und Isolationstendenz im Schulwesen“ durch eine Konzeption gefordert, die „die Gemeinsamkeit im Lehren und Lernen für Behinderte und Nichtbehinderte“ herstellen sollte. Die Integration der Behinderten und sozial Benachteiligten wurde jedoch auch von den Reformkräften in den Gesamtschulversuchen nicht entschieden genug verfolgt. Zunächst ging es um den Anspruch, das dreigliedrige System zu ersetzen, später darum, einen gleichwertigen Status gegenüber dem Gymnasium zu erreichen. Diesen Zielen wurden die Interessen der sozial benachteiligten Schülerschaft untergeordnet.
Nachhaltig beschädigt
Dass diese Kinder weiterhin unsichtbar bleiben, ist deshalb so unsäglich und darf auch von der Gesamtschulseite keineswegs akzeptiert werden, weil sie besonders benachteiligt sind. Sie werden durch den vermeintlichen „Förderort“ der Sonderschule noch nachhaltiger beschädigt werden als die HauptschülerInnen.
90 Prozent der SonderschülerInnen mit dem Förderschwerpunkt Lernen kommen aus Familien, deren sozio-ökonomischer Status nach Untersuchungen von Wocken (2005) unter dem Niveau der Arbeiterschicht liegt. Die herkunftsbedingten Leistungsschwächen werden meist schon in der Grundschule sichtbar. Sozial benachteiligte Kinder nehmen dort häufig einen doppelten Außenseiterstatus ein: wegen ihrer Armut und wegen ihrer Lernprobleme. Ihr Risiko, in eine Sonderschule überwiesen zu werden, ist nach der Studie der Arbeiterwohlfahrt „Armut im frühen Grundschulalter“ (2005) dreieinhalb mal so groß wie das von Kindern, die nicht in Armut leben. Dort aber sind sie, wie in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen immer wieder nachgewiesen, aufgrund des sozial verarmten Lernmilieus im Kompetenzerwerb extrem benachteiligt. Die Statistiken der Schulabschlüsse weisen aus, dass sie geradezu zur Erfolglosigkeit verurteilt sind. Als gering Qualifizierte und damit normabweichende Minderheit sind sie in der modernen Bildungsgesellschaft von sozialem Ausschluss bedroht und der Stigmatisierung ausgesetzt.
Wer sich genauer ansieht, wie der Sonderschulstatus auf die Betroffenen auswirkt, kommt zu deprimierenden Ergebnissen. Sonderschüler empfinden sich im Alltagsleben vielfach beschämt. Schon die Überweisung zur Sonderschule wird von fast allen Betroffenen als eine institutionelle Beschämung wahrgenommen; sie wird noch verstärkt dadurch, dass auch MitschülerInnen, Gleichaltrige und andere Akteure in ihrem Umfeld Sonderschüler bloßstellen und in ihrer Würde missachten. Das wissen auch die SchülerInnen in Interviews zu berichten.
„Ab und zu, wenn mich die Leute fragen, auf welcher Schule bist du denn“, berichtet ein Schüler, „dann sage ich immer: ‚Auf Real‘, oder so was.“ Der stigmabehaftete Sonderschulstatus fast aller SchülerInnen zwingt sie dazu, ihren niedrigen Schülerstatus in Alltagssituationen zu verschweigen oder sogar zu verleugnen. „Da müsste ich ja ‚Lernbehinderten-Schule‘ sagen und das traue ich mich nicht“, sagt der Schüler. Das verweist deutlich auf ein negatives Selbstkonzept. Im günstigeren Fall lässt sich das so interpretieren, dass die Betroffenen sich der negativen Fremdtypisierung nur äußerlich anpassen. Schlimmer wäre es, wenn die SonderschülerInnen das negative Fremdbild innerlich übernehmen. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die negative Selbstwahrnehmung die SchülerInnen der Sonderschule darin hindert, ein positives Selbstkonzept zu entwickeln.
Familiengeheimnis
Migrantenkinder werden nach eigener Wahrnehmung sehr viel häufiger und ausgeprägter mit der Scham, aber auch der Enttäuschung und Traurigkeit ihrer Eltern wegen des Sonderschulbesuchs konfrontiert. Ein türkischer Vater berichtet, wie sich sein Sohn verhält: „Er schämt sich und geht sofort aus dem Zimmer weg“, wenn der Besuch zuhause nach der Schule frage. Die Wahrnehmungen der Kinder decken sich mit den Angaben der Eltern. Fast doppelt so viele Migranteneltern wie herkunftsdeutsche Eltern geben an, dass es ihnen sehr bzw. ein bisschen peinlich ist, über den Sonderschulbesuch ihres Kindes zu sprechen. Die Folge: Der Sonderschulbesuch wird aus Scham häufig zum absoluten Familiengeheimnis.
Die Zuweisung des Sonderschulstatus bedeutet – aus menschenrechtlicher Sicht – für die Betroffenen eine Verletzung ihres Menschenrechts auf Bildung und auf Würde. Die am 13. 12. 2006 von der UN-Vollversammlung verabschiedete Convention on the Rights of Persons with Disabilities macht unmissverständlich deutlich, dass wir eine allgemeine Schule für alle brauchen, die jedes Kind wertschätzt. BRIGITTE SCHUMANN
Die Autorin hat zum Thema gerade ihre Promotion veröffentlicht: „ ‚Ich schäme mich ja so!‘ – Die Sonderschule für Lernbehinderte als ‚Schonraumfalle‘ “. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2007