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Archiv-Artikel

Auf großem Fuß

Sie gilt als Notlösung und Gift für die Demokratie. In Bremen aber wurde die Große Koalition zum Dauerbrenner. Nirgendwo sonst hielten es SPD und CDU länger miteinander aus. Morgen, nach zwölf Jahren, könnte die Zweckehe enden. Ein Rückblick

AUS BREMEN ARMIN SIMON

Juni 1995: Bremens Große Koalition wird aus der Angst geboren: Weil ihr zwei Stimmen Mehrheit zu wenig sind votiert die SPD, denkbar knapp, gegen Rot-Grün – und für Henning Scherf als Bürgermeister. Der war zwar für Rot-Grün angetreten, lernt aber schnell: „Es ändert sich etwas, wenn man nicht mehr gegeneinander kämpft, sondern zusammenarbeitet.“

Sommer 1995: Für das Projekt „Space Park“ auf dem alten Werft-Gelände der AG Weser hat sich kein privater Investor gefunden. Die Große Koalition hält trotzdem an dem Mega-Projekt fest. In das Einkaufs- und Erlebniscenter, das schließlich entstehen soll, steckt sie über 150 Millionen Euro – sogar die Achterbahnen des Indoor-Freizeitparks werden mit Bremer Geld gekauft. Die gigantische Ladenpassage steht immer noch leer, der Freizeitpark macht nach neun Monaten im Spätsommer 2004 endgültig dicht. Die Immobilie wird schließlich für einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag verscherbelt – und steht immer noch leer.

Februar 1996: SPD und CDU beschließen den Einstieg Bremens ins Musical-Geschäft und geben über 25 Millionen Euro für den Umbau eines ehemaligen Schwimmbad zum Musical frei. Von privaten Betreibern, die das Risiko tragen, ist schon bald keine Rede mehr. 2002 steht „Hair“ vor der Pleite, 2003 übernimmt Bremen ganz offiziell den Betrieb der Spielstätte – und alle laufenden Verluste. Man müsse „vermeiden, dass hier ein privater Veranstalter den anderen Konzertsälen Konkurrenz macht“, erklärt die SPD. Die CDU ist zufrieden.

April 1997: Der Bremer Senat beruft den Neurobiologen Andreas Kreiter an die Bremer Uni und verspricht ihm ein Primaten-Tierversuchslabor für Experimente am Hirn von Makaken-Affen. SPD und CDU stimmen für den Bau: man wolle „Tierversuche perspektivisch reduzieren“. Mehrfach erneuert der Senat die Tierversuchsgenehmigung für Kreiter, zu einem Verbandsklagerecht dagegen kann sich die Koalition nicht durchringen. Offiziell sprechen sich SPD wie CDU für ein Ende der Versuche aus.

Februar 1999: Der Finanzausschuss des Bundestags stimmt dafür, die Sanierungshilfe für Bremen um fünf Jahre zu verlängern. Von 1994 bis 2004 zahlt der Bund so insgesamt 8,5 Milliarden Euro – Kleingeld für die Investitionsprojekte der Großen Koalition: Gewerbegebiete, Space Park, Musical, Galopprennbahn, neues Pflaster für die Innenstadt. Der Schuldenstand Bremens steigt im gleichen Zeitraum von neun auf 12,2 Milliarden Euro an – trotz zusätzlicher Privatisierungserlöse in Höhe von 1,2 Milliarden Euro.

November 1999: Sozialsenatorin Hilde Adolf (SPD) verkündet, dass in ihrem Haushalt bis 2005 90 Millionen Euro gespart werden sollen, 250 Stellen sollen abgebaut werden. Zwar stellen sich diese Pläne schnell als unrealistisch heraus, gekürzt wird aber trotzdem. 150 SozialarbeiterInnen waren 2001 noch für Kinder und Jugendliche da, heute sind es noch 100. Die Konsequenzen erkennen CDU- und SPD-Politiker erst im Oktober 2006, als das Kind Kevin tot aufgefunden worden war. Die Personalkürzungen sollen nun zum Teil wieder zurück genommen werden.

Juli 2000: Die Bremer Bürgermeister Henning Scherf (SPD) und Hartmut Perschau (CDU) verhandeln den so genannten „Kanzlerbrief“. Schröder sichert darin zu, den „finanziellen Status Bremens“ gegen Negativfolgen der Steuerreform zu sichern. Unter Verweis auf dieses Papier luftbucht die Große Koalition jedes Jahr Einnahmen von über 500 Millionen Euro im Haushalt. Der Selbstbetrug platzt 2005: Da hat Bremen rund 13 Milliarden Euro Schulden. Im März 2006 zieht das Land erneut vors Bundesverfassungsgericht – und verlangt eine Teilentschuldung.

7. November 2001: Die große Koalition beschließt den Bau eines 800 Hektar großen Gewerbegebietes in der Arberger und Hemelinger Marsch plus den Bau einer Trainingsrennbahn für Pferde. Ersteres soll Investoren, letzteres gutbetuchte Pferderenn-Touristen locken. Um die Wirtschaftlichkeit der Investition zu belegen, redigiert das CDU-Wirtschaftsressort die Zahlen: statt sieben sollen jährlich 20 Hektar vermarktet werden – eine „Modellrechnung“, heißt es 2004. Da liegen die wahren Zahlen auf dem Tisch: Die Mega-Brache kostet Bremen eine halbe Milliarde Euro.

Juni 2003: In den Koalitionsverhandlungen einigen sich CDU und SPD auf die Schließung des Frauengesundheitszentrums und der Aidshilfe. Die gleichzeitig verkündete Schließung von drei Freibädern wird nach Bürgerprotesten zurück genommen.

Januar 2005: Beim zwangsweisen Pumpen von Wasser und Brechmittel in den Magen eines Drogendealers durch die Bremer Polizei fällt dieser ins Koma und ertrinkt. Innensenator Thomas Röwekamp macht im Fernsehen das Polizeiopfer verantwortlich: „Das hat er sich selber zuzuschreiben.“ SPD und CDU einigen sich nach dem Tod darauf, die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln einzustellen. Röwekamp bleibt im Amt.

November 2005: Nach monatelangen Debatten und Expertenanhörungen lehnen SPD und CDU eine Reform des Bremer Wahlrechts ab. BremerInnen sollen bei Bürgerschafts- und Beiratswahlen weiterhin nur eine einzige Stimme abgeben dürfen. Die Initiative Mehr Demokratie startet daraufhin ein Volksbegehren – mit über 60.000 Unterschriften das erste erfolgreiche in der Geschichte Bremens. Um eine erneute Niederlage im Referendum zu verhindern, stimmen SPD und CDU in der Bürgerschaft Ende 2006 dem Gesetzesvorschlag zu – und kündigen an, die Regelungen nach der morgigen Wahl teilweise wieder ändern zu wollen.