: Der Blick in die Leere
Experimentelles Musiktheater in Gelsenkirchen. Michael v. zur Mühlen inszeniert die Uraufführung von Lucia Ronchettis „Der Sonne entgegen“ – ausgewählt aus 40 internationalen Bewerbungen
VON FRIEDER REININGHAUS
Die Stimmung in der Fußball-Stadt ist nicht gut. Schöne Aussicht dagegen im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier: Eine Düne deutet sich an, hinter der später ein Eisberg auf- und vorbeizieht. Eine bildhübsche Sopranistin, (Ruth Rosenfeld) dreht vorn auf dem Strand Pirouetten, als wäre sie jenes totgeschossene Häschen, das auf der Sandbank Schlittschuh lief – als es dunkel war und der Mond helle schien. Mehrfach stürzt sie und steht wieder auf. Auch des Weiteren geht es um Annäherung an Paradoxien. Eine Alte im Campingstuhl sticht mit dem Feldstecher in See: „Auf dem Wasser treibt ein Schuh“. Vielleicht glotzt die Seniorin, die ihr Gesicht später schwarz eincremt, aber auch nur in die heranrollenden Wellen und kann dort nicht wirklich die Spuren eines Unfalls oder von Umweltsünden erkennen. „Nicht ertrunken?“
Möglicherweise aber doch: Treibgut, wie es in den letzten Jahren gerade an den Außengrenzen Europas zunehmend angespült wurde. Wir werden es nicht erfahren. Jedenfalls an diesem Abend nicht. Die zu Gehör kommenden Text-Partikel bleiben zusammenhanglos oder unbestimmt – mit Ausnahme einer später eingeblendeten todernsten Parodie auf die alltäglichen Fernseh-Gesprächsrunden mit Experten zum „Kosmo-Patriotismus“ und dem auf der Antarktis vertraglich vereinbarten Multi-Nationalismus als Modell für die künftige Gestaltung der „Weltgemeinschaft“. Selbst diese heiter-böse Fortspinnung des Talks unter den Fittichen von Stewardessen wie Sabine Christiansen oder Anne Will wird auch nur so partiell verständlich, dass sich weder eine simple „Geschichte“ mitteilt noch gar geschichtlicher Zusammenhang. Keine Botschaft. Nirgends.
Rechts vor der mattgrauen Plane, die in der weiten Breite voll aufgerissen ist, ist einer gestrandet. Vielleicht einer aus der Ferne. Oder ganz in der Nähe von Hartz IV ausgespuckt. Er hantiert mit einer Taschenlampe, als wolle er sich erleuchten oder wenigstens orientieren. Er zittert (obwohl es, wie die leichte Strand- oder Badekleidung der anderen verrät, gut warm sein müsste). Vielleicht ist er noch unterkühlt von der Anreise aus einem anderen Kulturkreis oder der letzten Betäubung. Aus dem Klang-Graffiti, mit dem Lucia Ronchetti die erste Szene von „Der Sonne entgegen“ hinterlegte, schälen sich nur einzelne Sätze – dann allerdings mit weitreichenden Bedeutungsfolgen: „Die Gegenwart ist angekommen“.
Das ist fürwahr so vieldeutig wie manches ironisch oder sarkastisch gemeint sein dürfte: „Die Macht hat kein Interesse an der Zukunft“. Eine akustische Welle baut sich bedrohlich auf, kommt nahe, eskaliert – und fegt den Strand leer. Dann wieder viel Stille. Sie ist, wie die Entfernungen oder die jeweilige Nähe, aus denen Geräusch und Ton sich erheben, wohl sehr genau dosiert. Komponiert.
Der Verzicht aufs Narrative war ebenso wie der auf eingängige musikalische Zusammenhänge vollauf beabsichtigt. Die Anbieter des neuen „Projekts“ am Musiktheater im Revier waren mit der Absicht angetreten, sich – gestützt auf Musik – mit „Migration, Deterritorialisierung und Wanderung“ auseinander setzen bzw. dieses Themenfeld „in seiner Vielschichtigkeit, Brüchigkeit und Brutalität“ zu kommentieren. Dass die entfernten Nachfahren der engagierten Künstler der 1920er Jahre, die der Enkelgeneration von Autoren wie Peter Weiss, Heiner Müller oder des jungen Hans Magnus Enzensberger angehören, gerade auch bei einer solchen Themenvorgabe nicht mehr mit deren Mittel und Intonationen liegt auf der Hand. So galt es für die 1979 in Berlin geborene Jugend-Autorin Steffi Hensel, den aus Köln stammenden Berliner Regisseur Michael von zur Mühlen (gleicher Jahrgang) und die römische Komponistin Ronchetti (geboren 1963), „Grenzgebiete“ auszuloten „und die besondere Stimmung, die von ihnen ausgeht“.
Das hat dann – in Bild und Ton – waidlich stattgefunden. Ronchettis Episoden integrieren mancherlei Material aus der Musikgeschichte, angefangen von der Madrigalkunst der Monteverdi-Zeit und dem noch viel älteren Adventslied „Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt“ bis zu Wagner- und Verdi-Assoziationen oder Gustav Mahlers „Himmlischem Frieden“. Eine martialisch ausstaffierte junge Frau läuft Amok und erschießt sich dann selbst. Die Schlittschuhläuferin kehrt als running gag wieder und sucht, wie Sokrates, Menschen. Mit der Stablampe. Ein vorzügliches Bläserquintett aus der musikFabrik NRW meldet sich aus der Ferne, umzingelt das Auditorium, rückt näher und rottet sich schließlich vor der Bühne zusammen. Auf der erhebt sich, zur Verheißung „mors stupebit“, ein gewaltiger Tutti-Aufschrei. Große Klage der vierzehn Sänger, die demonstrieren, welche Kraft in ihnen und der Komponistin steckt.
Dem Thema der Migration ist das von Anne Hölck fantastisch bebilderte, von Michael v. zur Mühlen anspielungsreich und mitunter raffiniert inszenierte „Projekt“ nicht zum Greifen nahe gekommen. Stimmungen und Befindlichkeiten, Ängste und den trostlosen Blick in die Leere aber hat es auf bemerkenswerte Weise sichtbar gemacht. Vor allem auch hörbar.
19. Mai, 20:00 Uhr Infos: 0209-4097200