: Maschinen- räume der Avantgarde
FOTOAUSSTELLUNG Die Nationalgalerie widmet dem Fotokünstler Brassaï eine Doppelausstellung im Museum Berggruen und der Sammlung Scharf-Gerstenberg
VON RALF HANSELLE
Er war das Auge von Paris. Der Nachtsammler. Als solcher ist er in die Geschichte der Fotografie eingegangen. Als der Ungar Gyula Halász 1932 seinen epochemachenden Bildband „Paris de nuit“ veröffentlichte, hat er damit die Seine-Metropole noch einmal neu erfunden. Denn so, wie sie Halász auf seinen 62 dunklen Schwarz-Weiß-Bildern gesehen hat, hat sie vorher niemand gesehen: düster, geheimnisvoll, anrüchig. Es ist eine Stadt, durchzogen von Dirnen, Herumtreibern und Liebestrunkenen. Erst bei Nacht – im Licht des Magnesiumblitzes einer alten Voigtländer-Plattenkamera – entfaltet sie ihren wahren Charme.
Es muss etwa um dieselbe Zeit gewesen sein, da hat sich auch ihr Fotograf Halász neu erfunden. Aus dem Sohn eines Universitätsprofessors aus dem Hinterland der k. u. k. Monarchie wurde die Fotografenlegende Brassaï – ein Name, den sich der studierte Maler und Bildhauer von seinem heute in Rumänien liegenden Geburtsort Brasso abgeleitet hatte. Neben Man Ray und André Kertész wurde er in den 30er Jahren zum wichtigsten Fotokünstler der Pariser Avantgarden; zum Dokumentaristen von Montmartre, zum Gestalter eines mysteriösen urbanen Dunkels. Der Ruhm von „Paris de nuit“ hat das spätere fotografische Werk Brassaïs lange Zeit in den Schatten gestellt. Jetzt aber erinnert eine von der Nationalgalerie ausgerichtete Schau daran, dass Brassaï weit mehr war als ein Meister des modernen Nachtstücks.
„Brassaï Brassaï. Im Atelier und auf der Straße“ macht deutlich, dass gerade die späteren Arbeiten des Exilungarn von einem feinen Gespür fürs Surreale sowie einer tiefen Verbundenheit mit den Künstlerkreisen des französischen Modernismus leben. „Brassaï Brassaï“ präsentiert eine weitsichtige Fotografenfigur, die im steten Austausch mit den ästhetischen Unterströmungen der Zeit gelebt hat.
Fruchtbare Dialoge
Im Zentrum des ersten, im Museum Bergruen gezeigten Teils stehen daher Aufnahmen von den Künstlerkreisen um Pablo Picasso. Unzählige Porträtfotografien von Henri Matisse, Henri Laurens, Georges Braque sowie Alberto Giacometti zeugen vom fruchtbaren Dialog zwischen Malerei und junger Fotokunst. Das dunkle Arbeitszimmer von George Braque oder die klaren Lichtfluten im Atelier von Matisse eröffnen Blicke in die Maschinenräume der Avantgarde – belichten das komplexe Zusammenspiel von Kunst und Leben. Ganz nach dem Credo André Bretons verortet Brassaï das Surreale in jenen Jahren nicht außerhalb der Realität, sondern in ihr selbst.
Seine eigenständigen Aufnahmen von Papier- und Holzskulpturen aus dem Atelier Picassos etwa suchen nach einer Aura der beiläufigen Kleinigkeiten. Brassaï zeigt ihre Rätsel und inszeniert ihre magischen Geheimnisse. Am eindringlichsten geschieht dies jedoch auf jenen Arbeiten, die in der Sammlung Scharf-Gerstenberg zu sehen sind. Denn hier arbeitet Brassaï nicht mit vorgegebenen Kunstobjekten; er lässt sich leiten vom Bildvokabular der Straße. Die hier gezeigten meist flächigen und dunkel getonten Silbergelatine-Abzüge zeigen Wandzeichnungen, Graffiti und Mauerritzungen. In den 30er und 40er Jahren hat sie Brassaï auf den Hauswänden von Paris abgelichtet. Es sind Tätowierungen auf Stein und Beton: Menschenfratzen und Totenköpfe, Tierzeichnungen und neuzeitliche Liebesgottheiten. Auf den großformatigen Aufnahmen dieser anonym hinterlassenen Codes und Zeichen ist es, als gaffte einen die Stadt selber an. Als erblickte man ihre verborgenen Sehnsüchte und ihre eingegrabenen Urängste. Diese Fotografien verwandeln die Fassaden von Paris in prähistorische Höhlenwände. Sie offenbaren einen tiefsitzenden Totemismus in der Kultur der Moderne. Lange vor der Erfindung von Streetart und Graffiti sammelte Brassaï die Kunst direkt von den schmutzigen Boulevards auf.
Selbst vor der antiintellektuellen Kunst Jean Dubuffets, die in der Sammlung Scharf-Gerstenberg mit Brassaïs Fotografien in direkte Beziehung gesetzt wird, illustrierte der Fotograf den Aufstand der Zeichen. „Meine Kunst ist vielleicht noch unsichtbar, aber sie existiert“, hatte der junge Brassaï einst in einem Brief an seine Eltern geschrieben. Und in der Tat: Gerade dort, wo das Verborgene und nahezu Unsichtbare seine ästhetische Form sucht, ziehen einen die Bilder dieser Ausstellung geradezu magisch an.
■ „Brassaï Brassaï. Im Atelier und auf der Straße“: Museum Berggruen und Sammlung Scharf-Gerstenberg. Noch bis 28. August