: Wenn das Verdrängte wiederkehrt
1944 löschte die SS sein Dorf und beinahe seine ganze Familie aus. Ein Film zeichnet jetzt Argyris Sfountouris’ Kampf um Gerechtigkeit vor deutschen Gerichten nach – und zeigt, wie wenig vergangen das Damals für die Überlebenden ist
In einem schlichten Zimmer bewegt sich ein älterer Mann auf eine ältere Frau zu. Es sind die Geschwister Kondylia und Argyris Sfountouris, und ihrer behutsamen Begegnung beizuwohnen, erschüttert. „Erinnerst du dich an mich, als ich klein war?“, fragt Argyris. „Nein“, antwortet Kondylia. Auch eine Nachfrage verneint sie: „Ich kann mich an nichts erinnern. Mein Verstand ist stehen geblieben.“ „Wann?“, möchte Argyris wissen, und Kondylia erinnert sich: „Als ich klein war.“ Alle Erinnerungen der alten Frau kreisen um das als kleines Mädchen Erlittene. „Seit dem Massaker“, sagt sie noch. Dann stimmen Bruder und Schwester ein Osterlied an.
Nicht nur in dieser Szene aus Stefan Haupts Dokumentarfilm „Ein Lied für Argyris“ ist das Vergangene nicht vergangen. Die Geschichte der Überlebenden des Massakers im griechischen Distomo hat noch nicht einmal ein Ende: Der Rechtsstreit um Entschädigung ist nicht abgeschlossen. Mit langen Sequenzen zeichnet Haupt die Lebensgeschichte von Argyris Sfountouris nach. Vier Jahre war Argyris alt, als eine SS-Division seine Eltern und 30 weitere Familienangehörige ermordete.
10. Juni 1944: In das kleine Bauerndorf an der Straße von Athen nach Delphi fallen Einheiten einer SS-Panzergrenadier-Division ein – eine „Sühneaktion“, eine Erwiderung auf einen Partisanenangriff. Am Vormittag waren die Deutschen in dem kleinen Dorf eingerückt und wieder abgezogen. Nun, am Abend, töten sie binnen einer Stunde 218 Menschen – Frauen und Männer, Greise, Kinder, Säuglinge. Dem Priester trennen die Deutschen den Kopf ab, Frauen vergewaltigen sie. Die SS-Leute schneiden jungen Müttern die Brüste ab und stecken sie den zertretenen Säuglingen in den entstellten Mund. Einige der Deutschen posieren stolz für ein Gruppenfoto.
Es sind nicht diese Bilder, die den Film bestimmen. Aber Gedanken an die Schreckensbilder stellen sich ein, wenn Regisseur Haupt vor Ort die Überlebenden berichten lässt. Schilderungen von alten Menschen, die beim erzählen wieder kleine Kinder sind. Sie zeigen auf den Tatort und versuchen Worte zu finden. Noch 63 Jahre später stocken sie, wenden sich ab und weinen.
Warum die vier Geschwister Sfountouris bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zogen, um eine Entschädigung zu erwirken, offenbaren diese Momente. Warum es für Argyris so unerträglich ist, dass das Bundesverfassungsgericht das damalige Massaker als zulässige Vergeltungsmaßnahme charakterisierte. In seinen Auseinandersetzungen vor etlichen deutschen Gerichten hat ihn der Hamburger „Arbeitskreis Distomo“ unterstützt.
„Ein Lied für Argyris“ zeichnet die zentralen Stationen von Argyris Leben nach: vom SS-Massaker über den Widerstand gegen die griechische Militärjunta bis zum Erinnerungs- und Entschädigungsstreit in Deutschland. Oft lässt der Regisseur den Zuschauer mit ruhigen Bildern inne halten. Vielleicht, um den inneren Abgrund zu erfassen, der im Gespräch mit dem Opfern immer wieder plötzlich aufbrechen kann. Um zu zeigen, wie der Kitt zwischen damals und heute aufbricht, wenn das Verdrängte sich wieder einen Weg bahnt in die Erinnerung.
66 Jahre ist Argyris heute alt, und die langen Auseinandersetzungen haben ihn beinahe entmutigt. Griechische Innenpolitik ist in seinem Leben eng verwoben mit deutscher Entschädigungspolitik. Nicht nur von einer rechtlichen Verantwortung spricht in diesem Zusammenhang die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke. Sie erzählt auch von den persönlichen Verstrickungen: Ihr Vater war bei der Reiter-SS, sein Einsatzort war Griechenland. Mehr als bloß eine erschütternde Lebensgeschichte erzählt Haupts Film: Eine Geschichte mit vielen Geschichten. Heute in Hannover sowie morgen in Hamburg stellen sich der Regisseur und sein Protagonist nach dem Film den Fragen des Publikums. ANDREAS SPEIT
heute, 19 Uhr, Hannover, Kommunales Kino; morgen, 19 Uhr, Hamburg, 3001-Kino. Bundesweiter Kinostart: Donnerstag, 17. Mai