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Archiv-Artikel

Die Polis bricht auf

In Thessaloniki und anderen griechischen Städten treffen sich seit Kurzem spontan Menschen an öffentlichen Plätzen, um über die dramatische Schieflage und die Zukunft ihres Landes zu reden. Auf den ersten Blick gibt es Ähnlichkeiten zum Stuttgarter Bürgerprotest. Doch die Rituale sind grundverschieden – und sehr demokratisch. Bürger reden und hören sich gegenseitig zu

von Rainer Nübel

Plötzlich war sie da, wie aus dem Nichts, in wenigen Stunden hatte sie sich formiert, an jenem Mittwoch in der letzten Maiwoche. Und dann kamen, Abend für Abend, immer mehr Menschen. Wie diese neue, ungewöhnliche Bürgerbewegung konkret entstand? Das wissen die Politeia-Protagonisten auf der Strandpromenade von Thessaloniki eigentlich selbst nicht. „Erzählt wird, dass es an einem Transparent lag, das Demonstranten in Madrid hochhielten“, sagt Effi. „In Windeseile soll das Foto von diesem Plakat rumgegangen sein. Und dann riefen hier die Ersten über Facebook wohl dazu auf, etwas zu machen.“ Auf dem Plakat der spanischen Protestler stand, in beißender Ironie: „Pssst, die Griechen schlafen.“

Jetzt kommt Effi kaum noch zum Schlafen. Denn die 23-jährige Lehramtsstudentin geht inzwischen jeden Abend zum Weißen Turm, dem historischen Wahrzeichen von Thessaloniki, auf dem die griechische Flagge weht. Bis in die tiefe Nacht nimmt sie teil an diesem Szenario, das plötzlich tausende Menschen auf die Beine bringt. Für einen süddeutschen Beobachter mutet es wie die Montagsdemo gegen irgendein Bahnhofsprojekt an, auf den ersten Blick – und doch ist es ganz anders, von einer anderen politischen Dimension. Zelte stehen auf der Strandanlage rund um den Weißen Turm. Die Camper, Teil der neuen Bewegung, haben große Plakate aufgehängt: „Über meine Zukunft entscheide ich!“ Fast wie im Schlossgarten einer süddeutschen Stadt. Und es gibt auch eine Plakatwand, die an Zaunproteste erinnert.

Keine Berufsargumentierer, sondern einzelne Bürger

Doch wenn gegen 19 Uhr in Thessaloniki das neue Ritual beginnt, gibt es keine Einheizer. Keine Galionsfiguren, die ihren prominenten Namen für den „Widerstand“ einsetzen und selbst die Bühne suchen. Und schon gar keine Politiker oder Gewerkschafter, die nach Zustimmung in ganz eigener Sache schielen. Diese Spezies der Berufsargumentierer ist hier ausdrücklich ausgeladen. Nein, ans Mikrofon treten Bürger, einzelne Bürger, und sie sagen, was sie sagen wollen, seit Langem, vielleicht schon immer.

Ein Mann scheint ein Märchen erzählen zu wollen, es war einmal ein König, der sehr gut lebte, aber er wollte immer mehr – plötzlich ist es eine Parabel auf Machtmissbrauch und politische Korruption. „Würde für alle“, fordert ein anderer Redner. Eine ältere Frau schildert ihre Erfahrungen als Arbeitslose, seit mehr als zwei Jahren sei sie ohne Job, man fühle sich minderwertig, und dieser Staat müsse für seine Bürger viel mehr tun. Nach ihr ist eine junge Frau an der Reihe: „Jedes Ich zählt. Aber wir alle sind eine Gemeinschaft!“ Immer wieder fällt das Wort Solidarität.

Und das Publikum? Keine Protestschreie aus Reflex, kein Pfeifkonzert, keine donnernden „Politiker weg“-Rufe. Die rund 3.000 Menschen hören zu, sie hören nur zu, jedem einzelnen Redner aus ihren Reihen, jeder Rednerin, die sich alle zuvor in eine Liste eingetragen haben und selbst darauf achten, dass ihr Vortrag nicht zu lang ausfällt. Stundenlang hören die Menschen zu, was jeder Einzelne zu sagen hat. Viele sitzen auf dem Boden, in Menschentrauben. Manchmal applaudieren Zuhörer, dann wird wieder konzentriert gelauscht. Bis weit nach Mitternacht. Was mancher frischgebackene deutsche Länderchef programmatisch ankündigt, ist hier Realität, von Bürgern selbst erzeugt: eine Politik des Zuhörens.

Dabei geht es hier um nichts Geringeres als um die politische Zukunft des Landes. Und bei sehr vielen gleichzeitig ums wirtschaftliche Überleben. Der finanzielle Ruin des griechischen Staates, die wirtschaftliche Schieflage, all dies wirkt zunehmend bis in die einzelne Existenz. Immer mehr Menschen sind in den vergangenen Monaten arbeitslos geworden. Immer mehr Geschäftsleute müssen aufgeben, wie Zahnlücken klaffen die geschlossenen Läden im Bild der Millionenstadt.

„In den vergangenen dreißig Jahren ist in Griechenland sehr viel falsch gelaufen, fast alles“, sagt Alex, 39, der in einem Dentallabor arbeitet und in seiner Freizeit ehrenamtlicher Bergretter auf dem Olymp ist. Die politischen Parteien hätten sich die Macht in Athen untereinander aufgeteilt – und immer nur ihre eigenen Interessen verfolgt. „Keiner glaubt mehr einem Politiker. Wir sagen: Ja, wir sind bereit, für weniger Lohn zu arbeiten – aber erst sollen die es machen!“ Es müsse sich etwas ändern, dringend. Daher kommt Alex jeden Abend zum Weißen Turm. „Vielleicht gibt es einen Aufstand, aus dem heraus eine neue Regierung mit völlig neuen Leuten entsteht“, sagt er. Und fügt mit ernster Stimme hinzu: „Es muss friedlich bleiben. Wir brauchen in Griechenland eine neue Solidarität der Bürger.“

Die wird gerade geübt, an der Strandpromenade von Thessaloniki und in vielen anderen Städten Griechenlands. Es sind Formen direkter Demokratie, Spielformen: reden, seine Meinung sagen, argumentieren – und zuhören. Auch noch nach Stunden haben die Szenen am Weißen Turm etwas Ruhiges, Lockeres, gar nichts Verbissenes. Während das Rede-Marathon läuft, tanzen junge Paare nebenan Tango, eine andere Gruppe trommelt für die Demokratie. Eine Kinderbetreuung wird gerade aufgebaut. Und sogar den Müll schaffen sie selber weg.

Längst sind es nicht mehr nur die Akademiker, die da reden

Am allerersten Abend waren es vor allem Akademiker, die das Wort ergriffen. Stella Tokmakidu gehörte dazu. „Es reicht nicht aus, nur ein Ventil für unsere Empörung zu suchen“, hatte die Deutschlehrerin betont, „jeder sollte nachdenken, was er selbst tun kann.“ Jetzt, nach der ersten Woche, haben sich konkrete Ziele konturiert. „Dazu gehört, Bürgergruppen zu gründen, die in den einzelnen Stadtteilen mehr Verantwortung übernehmen. Es geht darum, die Zukunft der Gemeinschaft mitzugestalten.“ Stella stemmt die Hände in die Hüften. „Es gibt einiges zu tun.“ Längst kommen die Redner nicht nur aus den Unis und Schulen, sondern aus allen Bereichen der Gesellschaft. Jeder wird ernst genommen, keiner wird belächelt, wenn er mit hochrotem Kopf zum ersten Mal vor großem Publikum spricht.

Auch Dorothee Vakalis kommt seit dem ersten Abend regelmäßig zum Weißen Turm. Die deutsche Pastorin lebt seit Langem in Griechenland und hat bis zu ihrer Pensionierung die evangelische Gemeinde deutscher Sprache in Nordgriechenland geleitet. „Es ist eine unglaublich spannende Bewegung. Man spürt, hier geht es um das ganz Wesentliche, darum, wie es mit Griechenland weitergeht.“ Immer wieder hält sie sich in Deutschland auf, etwa in Freiburg. Den Protest um Stuttgart 21 kennt sie. Sie könne die Gegner des Bahnprojekts verstehen. „Doch das hier hat eine ganz andere Bedeutung. Vielleicht sollte man immer auch die Relationen sehen.“

Am Weißen Turm von Thessaloniki läuft das demokratische Ritual weiter und weiter. Das Reden und das Zuhören. Die Polis bricht auf. Der Wind weht frisch vom Meer her.