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Archiv-Artikel

Die lieben kleinen Umweltbengel

NACHWUCHS Kinder sind der sichere Weg zur Apokalypse noch vor dem Abendessen. Warum? Dauerwachstum, Ressourcenverbrauch, Lärmbelästigung. Und zugleich retten sie die Welt. Unser Autor hat’s erlebt

Kinder stehen auf Konsumterror, räuberische Erpressung und Verschwendung von Ressourcen

VON BERNHARD PÖTTER

Der weiße Fußballschuh Größe 31 fliegt durch den Flur unserer Wohnung. „Die sind zu eng, ich brauch neue“, mault unser Siebenjähriger. „Guckt mal, ich bin jetzt 1,40 Meter!“, strahlt unsere Tochter, die mit Bleistift am Türrahmen ihre neuen Maße einträgt. Und ihr großer Bruder sieht nicht ein, warum in seinem Zimmer nicht Licht brennen soll, wenn er unterwegs ist: „Was denn? Ich denke, wir haben Ökostrom!“

So sieht die Debatte über Wachstum und Ressourcenverbrauch bei uns zu Hause aus. Drei von fünf Familienmitgliedern haben die Grenzen ihres Wachstums noch lange nicht erreicht. Sie legen zu wie sonst nur asiatische Tigerstaaten oder Rüstungsunternehmen. Die Eltern bemühen sich, mit dem Wachstum der kindlichen Grenzen Schritt zu halten. Und der ökologische Fußabdruck einer Familie mit drei Kindern – Mittelschicht, Innenstadt, eineinhalb Vegetarier – hat etwa Schuhgröße 67.

Denn nichts ist falscher als die Annahme, Familien oder gar Kinder seien die Garanten für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Wer wie Herbert Grönemeyer „Kinder an die Macht!“ fordert, der nimmt den Weltuntergang noch vor dem Abendessen in Kauf: Konsumterror, räuberische Erpressung und Ressourcenverschwendung wären an der Tagesordnung. Wahr ist: Kinder sind Umweltbengel. Unter „Postwachstum“ verstehen sie, dass es immer mehr Briefträger gibt. An einer der schlimmsten Umweltgefahren – Lärm – wirken sie voller Begeisterung mit. Und ganz unbewusst bringen sie allein durch ihr Erscheinen die Eltern von Pfad der Ökotugend ab.

Denn kaum ist der Schwangerschaftstest positiv, werden wir zwar hypersensibel, was die abstrakten Fragen von Zukunftssicherheit und Verantwortung angeht – aber im praktischen Leben tauschen wir schnell das „Gut leben“ gegen das „Viel haben“: Ein neues Auto muss her, ein Kombi oder Schlimmeres; die neue Wohnung hat zwei Zimmer mehr; für die Biomöhren fahren die frischgebackenen Eltern ans andere Ende der Stadt; und der Krempel, der einem ab sofort in Form von Strampelanzügen, Kuscheltieren oder Plastiktelefonen ins Haus kriecht, versaut noch die vorbildlichste Bilanz beim Mülltrennen. Die ökologischen Schäden, die wir aufgeklärten Postmaterialisten anrichten, sind deutlich größer als das, was unsere ökomäßig ignoranten Eltern in der letzten Generation veranstaltet haben: Wir fahren mehr in dickeren Autos, wir essen exquisiter, unsere Fernreisen gehen weiter als bis nach Österreich.

Die Kinder sollen es nicht besser haben

Nur eines machen wir besser: Wir sagen nicht mehr: „Ihr sollt es mal besser haben als wir.“ Das ist ein echter Fortschritt. Denn diese Erwartung, die wir als Kinder von allen Seiten zu hören bekamen, ist inzwischen so ausgestorben wie der chinesische Flussdelfin. Der Gedanke ist offenbar aus der Mittelschicht ausgewandert. Und das zeigt erst einmal von einer realistischen Weltsicht. Denn tatsächlich ist Deutschland heute im Weltmaßstab reich, sicher und grün wie noch nie, ein angenehmer Ort zum Leben mit Trinkwasser aus dem Wasserhahn. Dieses Niveau zu halten, stellt die nächsten Generationen schon mal vor eine echte Herausforderung. Denn wir wissen auch: Der Staat ist pleite, so viel Geld für soziale Programme wie in unserer Jugend wird es nie wieder geben. Und wir ahnen: Unseren Reichtum haben wir und unsere Eltern mit einer Art des Lebens und Wirtschaftens erkauft, für die jetzt langsam die Rechnung fällig wird: Staatsschulden, Artenschwund, Atommüll. Denn so sehr wir über die heutigen Zustände jammern – das ist alles noch in Butter, wenn wir es mit den Aussichten für unsere Kinder vergleichen: ein Sozialsystem, dessen Finanzierung schwieriger wird, eine Umweltkrise, die sich beschleunigt, eine Wirtschaftsordnung, die sich und uns gegen die Wand fährt.

Deshalb ist das Ende von „Ihr sollt es einmal besser haben“ auch eine große Chance. Der Wachstumsbefehl aus den Wirtschaftswunderjahren ist Geschichte. Der Glaube daran, dass ein fossil befeuertes großes Rad von Technologie, massivem Kapitaleinsatz und täglicher Hetze weitergedreht werden muss, wird zunehmend säkularisiert zur Frage: Bringt uns das wirklich weiter? Die Idee, große Probleme mit großen Antworten zu lösen, ist von gestern und wird bei der Atomkraft oder der Gentechnik ad absurdum geführt. Meine Kinder brauchen eher weniger als mehr Wirtschaftswachstum der herkömmlichen Art, bei dem sich auch die Aufräumarbeiten nach dem Super-GAU positiv niederschlagen. Nur so sollte die Rückzahlung des Darlehens aussehen, das wir bei der kommenden Generation aufgenommen haben. Denn wenn wir die Erde tatsächlich nur von unseren Kindern geliehen haben, müssen wie sie ja irgendwann zurückgeben. Und zwar nicht nur funktionsfähig – sondern in besserem Zustand als vorher. Sagte jedenfalls schon Karl Marx (ja, genau der!).

Aber die Brutpflege macht uns nicht nur deutlich, wo unsere Grenzen liegen sollten. Sie zeigt auch, dass Basisdemokratie nicht immer die Antwort ist. Denn trotz aller Diskussionskultur um Stuttgart 21 oder Wachbleiben bis 22 Uhr muss irgendwann mal Schluss der Debatte sein. Einen Familienrat mit gewissen diktatorischen Vollmachten, die bei mir liegen, wäre zum Beispiel auch ein gutes Vorbild für die 193 Staaten in den UN-Klimaverhandlungen.

Am Bewusstseinswandel in der Wachstumsfrage haben Kinder einen großen Anteil. Denn nichts wirkt so entschleunigend wie ein paar Jahre mit ein paar Kleinkindern zu Hause. Ich spreche da aus Erfahrung: Sicher, weite Teile des Großhirns sterben langsam ab, wenn man sich permanent zwischen Wachkoma und Windelwechseln bewegt. Aber der heilsame Abstand, den man dadurch zum Rattenrennen der Arbeitswelt bekommt, schließt sich auch später nie wieder ganz. Die Chefin ist sauer? Na, so schlimm wie Tinas Wutanfälle kann es nicht sein.

Unser Familienleben oszilliert also zwischen Konsumwahnsinn und Konsumkritik. Und auch das Wachstum und seine Kritik verlaufen in Schüben. Geben Sie uns noch 15 Jahre. Dann ist unser Jüngster 22 Jahre alt und erreicht gerade die Phase des Postwachstums. Ich bin dann 60. Dann können wir meinetwegen auch mal über Schrumpfungsprozesse reden.

 Bernhard Pötter, 45, taz-Redakteur, verzichet auf den Stau im Auto auf dem Weg zur Arbeit, auf Billigschnitzel, den Burn-out im Büro – und das Tarifgehalt