: Emanzipation der Diaspora
Die innerjüdische Debatte um die richtige Haltung zu Israel hat an Schärfe zugenommen. Letztlich geht es dabei auch um die Frage, wie man als Jude sein Judentum definiert
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin. Sie lebt in Wien und schreibt für den „Standard“, das Magazin „Falter“ und die taz. Zuletzt erschien von ihr „Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologie-theorie“ (2002, Passagen Verlag).
Am 3. Oktober des vergangenen Jahres wurde der bekannte jüdische Historiker Tony Judt mit einem Schlag berühmt – durch einen Vortrag, den er nicht gehalten hat. Eine telefonische Intervention verhinderte das Referat seiner israelkritischen Position, das er in der polnischen Botschaft in New York halten wollte und das sonst wohl relativ unbemerkt geblieben wäre. Der amerikanische Professor Alvin Rosenfeld wiederum veröffentlichte eine viel diskutierte Broschüre mit dem Titel: „ ‚Progressive‘ Jewish Thought and the New Anti-Semitism“, in der er mit einigen prominenten jüdischen Israelkritikern abrechnete. Und das amerikanische Online-Magazin „Slate“ witzelte mit einem Quiz zum Thema: „Sind Sie ein liberaler Antisemit?“ Eine Frage lautete etwa: Welches Land bereitet Ihnen mit seinen Menschenrechtsverletzungen am meisten Sorge? (a) Sudan (b) Israel. Oder (c) Massachusetts?
Kurzum – der unterschwellig gärende innerjüdische Konflikt um die Situation im Nahen Osten ist in den USA längst zum Ausbruch gekommen. Nun aber hat die offene Auseinandersetzung auch Europa erreicht. In Großbritannien haben sich 130 Intellektuelle zu der Plattform „Independent Jewish Voices“ formiert. Ihr Manifest (www.ijv. org.uk) ist eine weitere Etappe in dieser zunehmend heftigeren Konfrontation. Wenn man bedenkt, welch neuralgischer Konfliktherd der Nahe Osten selbst für emotional völlig Unbeteiligte darstellt, dann bekommt man eine Ahnung von der Wucht und der Bedeutung der Auseinandersetzung.
Den britischen „Unabhängigen jüdischen Stimmen“ kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Zum einen aufgrund der Unterzeichner des Manifests, die ebenso prominent wie heterogen und unerwartet sind. Zum anderen aber weil ihr Text besonders klar und deutlich zum Ausdruck bringt, worum es bei dem Streit tatsächlich geht.
Das Manifest setzt mit dem Bekenntnis ein: „Wir sind eine Gruppe von britischen Juden.“ Wenn man bedenkt, dass zu den Unterzeichnern unter anderem auch der Historiker Eric Hobsbawn, der Literaturnobelpreisträger Harold Pinter oder der Regisseur Mike Leigh gehören, dann ist die erste Reaktion: Verblüffung. Denn hier geben sich durchweg Leute, deren öffentliche Identität bis dato nicht dadurch bestimmt war, als Juden zu erkennen.
Die Situation sei so schlimm, so Judt, dass verdienstvolle Leute sich gezwungen sehen, nicht als Vertreter ihrer jeweiligen Profession, sondern als Juden zu agieren. Man weiß nicht, was ihrer Intervention mehr Gewicht verleiht: die bekannten Namen oder die Tatsache, dass sich hier Juden zum Thema Naher Osten äußern.
Zunächst einmal ist das Bekenntnis, Jude zu sein und als Jude zu sprechen, notwendig, um ihre Stimmen als unabhängig zu positionieren – das heißt, um sie gegen jene Institutionen zu erheben, „die beanspruchen, die jüdische Gemeinde als Ganze zu repräsentieren“. Daniel Bax meinte in der taz, der Rückgriff aufs eigene Jüdischsein sei die „einzige Möglichkeit, dem Alleinvertretungsanspruch“ des organisierten Judentums, sprich der Gemeinden, zu begegnen. Nun ist dieser Einspruch gegen die jüdischen Institutionen ein doppelter: Zum einen behaupten die Briten, die offiziellen Organisationen würden das „breite Spektrum an Meinungen innerhalb der jüdischen Bevölkerung“ nicht darstellen. Zum anderen aber fordern die „Stimmen“ jene Unabhängigkeit ein, die darin besteht, divergierende politische Meinungen äußern zu können, ohne der Illoyalität beschuldigt zu werden. Dies ist der springende Punkt.
Tatsächlich werden kritische Positionen zur israelischen Politik innerhalb der jüdischen Gemeinden als Illoyalität gewertet und dementsprechend behandelt. Ein wesentliches Argument dabei ist die Behauptung, öffentliche Auseinandersetzungen zum Nahostkonflikt würden den Antisemitismus befördern – als ob dieser eine rationale Veranstaltung wäre und der jüdischen Argumente bedürfte. Als ob dieser überhaupt irgendwelcher Argumente oder gar der Existenz von Juden bedürfte, um zu „funktionieren“. Nach dem Krieg war diese quasifamiliäre Bindung – dieses Gefühl, wir müssen zusammenhalten gegen eine feindliche Umwelt, gegen die Bedrohung von außen – durchaus verständlich. Seit dem 11. September aber wurde aus der selbstverständlichen Unterstützung Israels zunehmend die selbstverständliche Unterstützung der israelischen Politik. Die Diaspora-Gemeinden machten dies zu einem wesentlichen Moment ihrer Existenzberechtigung.
Deshalb ist die innerjüdische Kritik an der israelischen Politik so bedrohlich für sie, und ihre Reaktionen darauf werden immer schärfer. Solche Kritik wird mit der Leugnung des israelischen Existenzrechts gleichgesetzt. Dieser Kurzschluss rührt daher, dass die offiziellen jüdischen Organisationen die Existenz Israels nicht einfach als Faktum handeln, sondern immer auf der Ebene des israelischen Legitimationsnarrativs stehen. Nur so kann jede Kritik als fundamentale Infragestellung interpretiert werden, die entsprechend abgewehrt werden muss.
Nun erheben sich aber jüdische Stimmen, für die Judentum nicht automatisch Unterstützung der israelischen Politik bedeutet. Oder die in der gegenwärtigen Situation Kritik sogar als die bessere Unterstützung des Landes verstehen. Und sie bieten dem Vorwurf des Nestbeschmutzers die Stirn.
Dazu findet sich der vielleicht interessanteste Punkt des britischen Manifests: Die Unterzeichner sprechen von sich nicht nur als „Gruppe von Juden“, sondern fügen sofort hinzu, worin ihre Gemeinsamkeit besteht: „Wir sind eine Gruppe von Juden (…) gemeinsam ist uns eine starke Verpflichtung gegenüber sozialer Gerechtigkeit und den universellen Menschenrechten.“ Sie berufen sich also auf eine weitere Gemeinsamkeit als ihr bloßes Judentum. Oder besser gesagt: Diese Gemeinsamkeit kommt nicht zu ihrer jüdischen Identität hinzu, sondern ist vielmehr die Art, wie sie ihr Judentum verstehen: als Unterstützer der „universellen Freiheit, der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit“.
Daran sieht man, worum es letztlich bei dieser Auseinandersetzung geht: um die Definition dessen, was Judentum ist. Unabhängigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch, den öffentlichen Organisationen die Definitionshoheit abzusprechen. In diesem Sinne kommt die britische Initiative, die mit ihrem Manifest auch ein – überlaufendes – Diskussionsforum eröffnet hat, der Gründung einer Gegengemeinde gleich.
Die beklagte Identitätsfalle, in die die Kritiker gehen, wenn sie sich als Juden deklarieren müssen, um ihre Kritik anzubringen, erweist sich so auch als Chance: Sie erlaubt es, eben diese Identität neu zu interpretieren. In diesem Sinne ist der Streit in den Gemeinden letztlich eine Normalisierung, die die Mitglieder aus dem Familienzwang entlässt und die Möglichkeit einer Emanzipation der Diaspora eröffnet.
ISOLDE CHARIM