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Archiv-Artikel

Jan Stöß Drei Rote fürs Rathaus

WOWEREIT-NACHFOLGE Noch bis heute Nacht können Berlins SPD-Mitglieder den neue Regierenden Bürgermeister bestimmen. Drei Kandidaten stehen zur Wahl, einen klaren Favoriten gibt es nicht. Wer soll es machen? Die taz gibt letzte Tipps

Der Zeitplan

Klaus Wowereit (SPD) will sein Amt als Regierender Bürgermeister von Berlin am 11. Dezember aufgeben. Bis dahin muss die SPD einen Nachfolger gefunden haben. Der Zeitplan:

■ 17. Oktober: Bis Mitternacht müssen die Abstimmungsunterlagen für das Mitgliedervotum bei der Post eingegangen sein.

■ 18. Oktober: Auszählung. Erhält kein Kandidat die absolute Mehrheit, kommt es zur Stichwahl.

■ 5. November: Bis Mitternacht müssten die Unterlagen für die Stichwahl eingegangen sein.

■ 6. November: Auszählung der möglichen Stichwahl. Danach steht der Nachfolge-Kandidat fest.

■ 8. November: Auf dem SPD-Landesparteitag wird der Kandidat offiziell nominiert.

■ 11. Dezember: Wowereits Rücktritt. Anschließend wählt das Abgeordnetenhaus seinen Nachfolger. Alle Senatoren müssen, falls sie weitermachen, neu vereidigt werden. (dpa)

Wer ist Klaus Wowereit? Ein knuffiger Regierender, der Berlin wieder zur Weltstadt gemacht hat, aber im letzten Drittel seiner Amtszeit bräsig wurde und den BER versemmelte? Oder der Chef eines Senats, der eine Spar- und Privatisierungspolitik à la Griechenland betrieb und, als die Wirtschaft wieder wuchs, die Mietenproblematik ignorierte?

Wer glaubt, dass sich eine gute Bilanz des Wowereit-Senats ziehen lässt, wird seinen Adepten Michael Müller als Nachfolger bevorzugen. Von den beiden anderen Kandidaten liefert Saleh die bessere Story – die des Migranten, der sich nach oben geboxt hat. Berliner lieben Geschichten, die ihnen bestätigen, in einer liberalen Stadt zu leben. Und Politiker lieben diese Geschichten ebenso, weil dann niemand genau hinschaut, wofür sie wirklich stehen. Saleh präsentiert sich als Wundertüte, der mal links, mal rechts paktiert. Was daraus wird, lässt sich kaum voraussagen.

Mieterschutz und mehr Personal

Jan Stöß, der Richter aus Hildesheim, hat keine spannende Geschichte zu erzählen. Sein Schwulsein lässt sich nicht mehr vermarkten, sondern ist selbstverständlich – und das ist auch gut so. Denn damit kann Stöß nur Wähler ziehen, wenn er auf Inhaltliches setzt. Sein „100-Tage-Plan“ ist ein intelligentes links-sozialdemokratisches Programm, das auf Mieterschutz und mehr Personal für die kaputtgesparte Verwaltung setzt. Statt nur zur Haushaltssanierung sollen die Mehreinnahmen der wachsenden Stadt für Investitionen verwendet werden. Das alles ist nach fast 15 Jahren SPD-Austeritätspolitik in Berlin sensationell.

„Wer Wahlen gewinnen will, muss mutig sein“, schrieb Saleh an die Genossinnen und Genossen. Aber noch mutiger als ein Regierender Bürgermeister, der in Palästina geboren wurde, wäre ein linker Sozialdemokrat an der Spitze der deutschen Hauptstadt. MARTIN REEH

Raed Saleh

Raed Saleh überzeugt mit seinen Inhalten. Er hat sich in der SPD auf mehreren Parteitagen gegen eine Verlängerung der Autobahn 100 nach Treptow eingesetzt. Er hat den Börsengang der ehemals landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft GSW abgelehnt. Er hat eine allgemeine Kitapflicht vorgeschlagen. Und er initiierte schon im Jahr 2009 ein Parteiausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin nach dessen umstrittenen Äußerungen in einem Interview. Leider konnte er sich damit jeweils nicht durchsetzen – die Berliner SPD wäre sonst in den vergangenen Jahren eine bessere SPD gewesen.

Als Fraktionsvorsitzender zog er die richtigen Schlussfolgerungen aus der Tempelhof-Abstimmung und regte an, dass die Politik in Zukunft die Bürger befragen kann und die Bürger nicht immer erst Hunderttausende Unterschriften sammeln müssen.

Als Michael Müller Vorsitzender von Partei und Fraktion war, waren zu wenige eigene Ideen und Impulse erkennbar. Das hat sich mit seinen Nachfolgern – Jan Stöß als Parteivorsitzendem und Raed Saleh als Fraktionschef – deutlich geändert. Stöß verfolgt leider eine Neuverschuldungspolitik, die unverantwortlich ist. Berlin zahlt derzeit bereits 2 Milliarden Euro jährlich an Zinsen für die bisher aufgenommenen Schulden – diese Subventionierung reicher Menschen hat schon jetzt viel zu große Ausmaße angenommen und sollte abgebaut statt ausgeweitet werden.

Kaum im Parlament, schon Chef

Saleh hat außerdem das Talent, Leute von sich zu überzeugen. Nach nur fünf Jahren im Abgeordnetenhaus hatte er bereits eine Mehrheit in der SPD-Fraktion hinter sich, die ihn Ende 2011 zu ihrem Vorsitzenden wählte.

Nicht zuletzt könnte Berlin mit Raed Saleh wieder einmal deutsche Geschichte schreiben: Nach Klaus Wowereit als erstem offen schwulem Regierungschef könnte Raed Saleh mit gerade mal 37 Jahren jüngster Regierungschef aller Zeiten werden. SEBASTIAN HEISER

Michael Müller

Die Entscheidung für den künftigen Regierenden Bürgermeister mag mit den konkreten Programmen der Bewerber zu tun haben, aber mindestens genauso viel mit persönlichen Vorlieben und Grundeinstellungen der SPD-Wähler. Will ich Missstände beseitigen, aber kein Bilderstürmer sein? Bringen mich die Negativmeldungen von IS, dem Krieg in der Ukraine und Ebola dazu, dem alten Adenauer-Diktum „Keine Experimente“ etwas abzugewinnen? Bin ich ein Fan von Sportfilmen, in denen einer am Boden lag und wieder aufgestanden ist? Wohne ich außerhalb der Innenstadt und habe die Nase voll davon, dass Berlin angeblich nur aus Berghains, Hipstern und Latte-Trinkern im Banne eines glamourösen Regiermeisters besteht?

Wer diese Fragen mit einem Ja beantwortet, wird sich zwangsläufig für Michael Müller entscheiden. Dass er einen Führungsjob kann, hat er bewiesen: in der Fraktion, der Partei und der Senatsverwaltung mit den meisten Aufgaben. Dass er nicht vergessen wird, dass es in Berlin nicht nur Kreuzköllner und Prenzlberger gibt, dafür bürgt seine Tempelhofer Bodenständigkeit. Auch Wowereit kam aus diesem Bezirk, doch auf dem Weg ins Rote Rathaus kam ihm bisweilen das Gespür für normale Nöte seiner Wähler abhanden; am deutlichsten, als er eines Winters die Angst vor dem Glatteis nicht nachempfinden konnte.

Ausgemustert, aufgestanden

Und so wie Raed Saleh eine grandiose Aufstiegsgeschichte vom scheinbar chancenlosen Migrantenkind hin zum SPD-Fraktionschef vorzeigen kann, so hat Müller die Geschichte vom Comeback-Kid: ausgemustert von seiner eigenen Partei 2012, ausgeknockt, aber wieder aufgestanden. In das Thema knapper Wohnraum reingekniet, für die Randbebauung am Tempelhofer Feld gekämpft und zur Niederlage gestanden. Müller mag selbst das Bild des manchmal blassen, aber ehrbaren Malochers vor sich hertragen – aber was soll er auch anderes machen? Es stimmt halt. STEFAN ALBERTI