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Archiv-Artikel

Beutekunst etc. Sternchen weisen die Zukunft

„Europa ohne Grenzen“ ist eine Verheißung. Wer ihre Erfüllung noch erleben möchte, muss sich auf eine Zeitreise begeben. Zunächst nach Russland, dann allerdings noch ein paar Jahre weiter zurück in die Merowingerzeit. Ihr widmet das Moskauer Puschkinmuseum in Zusammenarbeit mit den Berliner Vor- und Frühgeschichtlern eine viel beachtete Ausstellung.

Die Zeit der salischen Franken ist auch die Epoche der Völkerwanderung. Hunnen aus dem Osten zogen vom Ural bis an den Atlantik. Wilde Germanen aus dem Norden Europas drängten in den Süden. Was ihnen in den Weg kam, Ausläufer der spätantiken römischen Zivilisation, blieb auf der Strecke. Ist es dieses Erbe, dass sich Deutsche und Russen bis heute mit Formen der Zivilisation schwer tun? Sie setzen auf Kultur als identitätsstiftendes Moment und grenzen mit Freude aus, anstatt lustvoll zu integrieren. Ein Band, das beide Völker unbewusst verbindet, um in einer Dialektik konsensueller Destruktivität schließlich als Grenzziehung zu erscheinen.

Nun also präsentiert Moskau Trophäenkunst aus deutschen Beständen. Sternchen auf den Exponaten – urplötzlich Symbole des Fortschritts – verweisen erstmals auf den eigentlichen Besitzer Deutschland. Im Gegenzug steuert das dankbare Berlin Preziosen bei, die die sowjetischen Befreier vor 62 Jahren übersehen haben müssen und die die Ausstellung erst komplettieren. Eigentlich grenzwertig aus deutscher Sicht. Doch nicht ungeschickt. Berlin ist über den eigenen Schatten gesprungen und begegnet russischen Besitzfantasien offensiv: durch Negation eigener Verlustängste. Aber auch Moskau war nicht pingelig. Schließlich haben die Russen durch die öffentliche Präsentation sehr viel mehr zu verlieren: Was nicht ein- und vor der Öffentlichkeit weggeschlossen ist, gehört der ganzen Welt, behauptet ein russisches Sprichwort.

Wie man hört, soll die Kooperation rundum ein Erfolg sein. Gleichwohl kann er über das Trennende nicht hinwegtäuschen. Sind für die Deutschen Grenzen etwas ganz Reales, sehen die Russen vor allem das Imaginäre am Limes. Grenzen sind Vorstellungswelten, mehr nicht. Russlands Gesellschaft orientiert sich nicht an Fakten.

Unterdessen sind die Grenzen so real wie lange nicht mehr. Wer von Russland aus ins „Europa ohne Grenzen“ möchte, stößt zunächst auf den Grenzwall der russischen Bürokratie. Dann muss er noch die Konsulate der EU-Staaten bezwingen. Immer weniger Russen gelingt das auf herkömmliche Weise. Der Westen fürchtet wilde Horden und der Osten, dass diese domestiziert zurückkehren. Wandel durch Annäherung versteht Moskau von jeher als subversive Kampfansage. Daher rührt die gedeihliche Zusammenarbeit am grenzenlosen Europa vor 1.600 Jahren.

KLAUS-HELGE DONATH