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Archiv-Artikel

Die Gute und Wahre

Heinrich Bölls „Verlorene Ehre der Katharina Blum“ war eine bildmächtige Fabel über Ohnmacht und Gegenwehr – und der Schlüsselroman einer ganzen Ära. Eine Neulektüre

VON JAN FEDDERSEN

Ihr Gesicht das einer Madonna, ihr Blick immer leicht zu Boden gerichtet, an der Kamera vorbei. Ihr Stimme leis, ohne nur die Spur von Aufgewühltheit, zunächst. So hatte sich das deutsche Kinopublikum im Herbst des Jahres 1975, als der Film fertiggestellt war, diese Frau vorzustellen, die es durch die Springer-Presse vor allem als antiweibliches Monster und somit als Verkörperung übelster Gefahr kennengelernt hatte: Unter dem Namen Ulrike Meinhof saß sie gerade im Gefängnis – aber die Heldin in dieser Filmerzählung von Volker Schlöndorff heißt Katharina Blum, eine Schöpfung des Schriftstellers Heinrich Böll. Die naheliegende Verwechslung beider Frauen, von denen die eine Korpus einer Medienerzählung, die andere eine literarische Figur war, hatte der Erfinder der Katharina Blum beabsichtigt. Sie war die Konterfigur zu all der Hysterie, die allen voran die Bild-Zeitung in Sachen Baader-Meinhof-Bande, RAF und Terrorismus entfacht hatte.

Und Heinrich Böll wusste, was er tat. Aus heutiger Sicht, da die Bild-Zeitung gern als lediglich aufgeheizt, an intellektueller Differenziertheit kategorisch desinteressiert abgetan wird, als Illustrierte auf Zeitungspapier, wie andere Boulevardmedien auch, heute ist kaum mehr nachzufühlen, dass der Bild-Sound damals einer war, der dem angenommenen „gesunden Volksempfinden“ entsprechen sollte. Ein hetzerisches Blatt, politisch Unions-nah, ästhetisch den Methoden der Gräuelpropaganda unterworfen – und mental obrigkeitsstaatliche Verhältnisse ersehnend.

Kein Hehl machte Heinrich Böll daraus, dass sein Roman dem Furor dieses Blattes etwas entgegensetzen wollte. In der Vorbemerkung erläutert der Kölner Schriftsteller: „Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“ Ihm ging es in diesem Buch, 1974 erschienen, von Anfang an um einen wütenden Appell, „ein ganz präzise entworfenes Pamphlet“ gegen die Gewalt von Medien wie der Bild-Zeitung, die über die sogenannte Baader-Meinhof-Bande schrieben, den linken Terrorismus, die aber in Wirklichkeit alles meinten, was mit der Chiffre Achtundsechzig verbunden war: Studentenbewegung, „Gammler, Pinscher, Uhus“ (Exkanzler Ludwig Erhard über Intellektuelle), die Proteste schlechthin, die schwärenden Unruhen im Land, nicht nur in den akademischen Milieus, sondern in den meisten Familien, in Schulen, Fabriken – im Alltag. Man hielt unausgesprochen Gericht über den gesellschaftlichen Aufbruch, in dem es nicht allein um Nazi-Vergangenheiten ging, sondern vor allem um Liberalität und so etwas wie ein anderes Leben, das nicht eingetrocknet und fahl hinter Jägerzäunen vergeudet wird.

Extrem lebensverlängernd für die terroristischen Allüren der RAF war ja, dass die obrigkeitsstaatlichen Apparate – deren Lautsprecher eben die Bild-Zeitung hauptsächlich war – alle Aufbrüche mit der RAF in eins setzten: So erst kam der linke Terrorismus überhaupt zu Ansehen und kaum verheimlichter Sympathie. Es gab damals, recht erinnert, keine Chance, sich von linken Militanzfantasien abzusetzen, ohne zu riskieren, mit der Springerpresse, zu der neben Bild auch die Welt, das Hamburger Abendblatt und die Berliner Morgenpost und die Berliner B.Z. zählten, ja: zu kollaborieren. Ein Folgeschaden der Schwarzweißzeichnung à la Springer.

Der „gute Mensch von Köln“, wie Böll gelegentlich karikiert wurde, wusste, dass nur er eine wirkmächtige Gegenerzählung formulieren konnte – anders als alle anderen Autoren seiner Generation war er im liberalen Bürgertum gelitten, ein Star auf Kirchentagen und in Evangelischen Akademien. Ende 1972 wurde ihm der Literaturnobelpreis zugesprochen – eine Anerkennung seiner schriftstellerischen Leistungen und zugleich auch eine ideelle Honorierung, die ihn quasi unangreifbar in der bundesdeutschen Nachachtundsechzigerzeit machte. In einem Text für den Spiegel, am 10. Januar 1972 veröffentlicht, hatte er, ehe er den „kleinen Schlüsselroman der Apo- und der Baader-Meinhof-Zeit“ (Rolf Michaelis damals in der Zeit) verfasste, über Meinhof und die Ihren geschrieben, sie lebten „im Kriegszustand“ mit der Bundesrepublik: „Es ist inzwischen ein Krieg von sechs gegen sechzig Millionen.“

Böll forderte Gnade und freies Geleit für die einstige Autorin von Konkret, für den Darling des hanseatischen Bürgertums, für die Frau, der doch eine wichtige Rolle im linksliberalen Establishment schon sicher schien. Gnade jedenfalls, so Böll, müsse man schon aus Gründen politischer Gerechtigkeit walten lassen: „Baldur von Schirach hat nicht so lange gesessen, wie Ulrike Meinhof sitzen müsste.“ Dieser, was die Skizzierung von Nazi-Verbrechern wie von Schirach betrifft, tatsächlich ja zutreffende Umriss der juristischen wie politischen Verhältnisse, war unverzeihlich: Der Schriftsteller hätte sonst was sagen können, aber er hätte niemals so populär die absichtsvollen Mildtätigkeiten gegen das Gros der in der Bundesrepublik (über)lebenden NS-Funktionäre thematisieren dürfen. Die Verzweiflung der Baaders und Meinhofs, so sah Böll das, ließ sich auf einen Namen bringen: Was die Bild-Zeitung charakterisiere, sei nicht mehr „kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid“ zu nennen, „das ist nackter Faschismus, Verhetzung, Lüge, Dreck.“ Und niemand hätte dies bestritten – es war so offenkundig, so Tag für Tag nachlesbar, so wirkmächtig an jedem Kiosk, an Tankstellen, in Bahnhöfen, Taxen und Kneipen.

Das „Pamphlet“, das Böll auf der absoluten Höhe seines Könnens entwarf, hätte giftiger nicht sein können. Erzählt wird die Geschichte der Katharina Blum – und schon die Namensgebung ist nicht zufällig, denn Katharina heißt die Reine, die Unschuldige, die Unbescholtene. Sie arbeitet als Haushaltshilfe, serviert bei Partys Getränke und Schnittchen. Lernt einen Mann kennen, Ludwig Götten – der im Schlöndorff-Film von Jürgen Prochnow wie ein Prototyp damaliger junger Männer der besseren Sorte gegeben wird, kein Macho, aber robust, doch zarter, dreitagebärtiger Gefühlsversteher, leicht jesuanisch gezeichnet. Die Blum kein Flittchen, eben kein „Flintenweib“, als das die Meinhofs und Ensslins und die anderen politischen Frauen jener Jahre missachtet wurden – Katharina Blum ist die Madonna, die in Götten erkennt, was die Liebe ist. Aber es bleibt bei der einen Nacht, denn er muss fliehen, auf seinen Fersen gemeine Häscher, die ihm allerlei Nebulöses vorwerfen. Götten ist der Held, an den die Reine sich verliert; aber weil Polizei und „Die Zeitung“ ihn verfolgen, gerät auch sie ins Zwielicht, dann ins Fadenkreuz. Ihr im Nacken sitzt Werner Tötges, Reporter bei der „Zeitung“, wie das Original in Roman wie Film genannt wird. Ein von Dieter Laser genial gespielter Schmierling. Als Tötges sich in seinem Reporterwahn in die Intensivstation einschleicht und dort Katharina Blums schwerkranke Mutter bedrängt, endlich die volle Wahrheit über ihre Tochter zu beichten, stirbt die alte Frau. Katharina Blum, Böll legt es nahe, kann ihrem Verhängnis nicht mehr entkommen.

Götten wird schließlich gefasst, wobei sich herausstellt, dass er kein Monsterkrimineller ist, sondern nur ein Bundeswehrdeserteur, der die Kompaniekasse unbefugt leerte. Aus der „gesellschaftlich voll integrierten jungen Frau“ (Wikipedia) ist innerhalb weniger Karnevalstage eine „verachtete Außenseiterin“ geworden – stigmatisiert, bedroht durch eine Fülle von Hassbriefen, die sie nach Berichten in der „Zeitung“ erreichen. Eine Frau, die ihre Ehre nicht durch ihren „Fehltritt“ (die Nacht mit Götten) verloren hat, wie Bölls Titel auch unterstellen könnte, sondern der die Ehre kalten Blutes genommen wurde.

Blum, nun nicht mehr scheu, sondern waidwund, was von Angela Winkler, die sie in dem Film spielt, brillant gezeigt wird, bittet Werner Tötges um ein Treffen. Er lässt sich gern darauf ein. Bei ihrer Begrüßung sagt er ihr leutselig, man könne ja erst mal „bumsen“ – eine Vokabel, nebenbei, über die sich viele Rezensenten als vulgär und unpassend erregten. Blum nimmt dieses Wort in jeder Hinsicht wörtlich, nimmt eine Waffe zur Hand und erschießt den Reporter. Der Polizei sagt sie später, sie sei danach durch die Stadt gegangen, „um Reue zu finden“, „habe aber keine Reue gefunden“. Katharina Blum, die Frau mit dem langen, adrett gescheitelten Haar, mit der Aura evangelischer Altflötenhaftigkeit, kann, um vor sich selbst weiterzubestehen, nicht anders, als den Journalisten, der seinen Trüffelschweinjob allzu ernst genommen hat, letztgültig zu belehren. Die Blum erntete alle Sympathie des Publikums nicht zuletzt, weil sie das Gegenteil der Uschi-Obermaier-Weiblichkeit war. Keine aufgetriedelte Hippieschnecke voller Wortgewölk und Lifestyleschmus, sondern eine Person voll Ernsthaftigkeit, feinster Prüderie, allen sexuellen Gelüsten abhold, außer im Fall einer großen Liebe. Da wusste ein Schriftsteller auch eine weibliche Figur zu zeichnen, die eine Tragödie in sich wachsen lassen muss, weil es nicht mehr die Zeit für Partys war. Böll muss, abseits der Funktionalität genau dieser Frauenskizze, schlimme Angst vor Ekstase und weiblichem Begehren – wie im Bild der Obermaier gemalt – gehabt haben.

In manchen Kinovorstellungen, wird überliefert, klatschte das Publikum zustimmend, als Katharina Blum sich rächt. Der Film wird zu einem der erfolgreichsten deutschen Produktionen der 70er-Jahre, das Buch Heinrich Bölls dessen kommerziell einträglichstes jener Ära. Es findet sich inzwischen in fast jeder Schulbücherei, die meisten der heute unter Vierzigjährigen haben die Geschichte im Unterricht behandelt. Was damals ein geschickter Schachzug war, um dem „gesunden Volksempfinden“ eine alternative Erzählung entgegenzustellen, ist nicht einmal gegen große Widerstände Teil des deutschen Literaturkanons geworden. Wer „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ nicht kennt, weiß wenig über die echten Siebziger und ihre hasserfüllten Volten entsetzlich kaltschnäuziger Kreise gegen alles, was irgendwie gut und schön und wahr sein konnte.

Bölls Erzählung ist stilsicher wie eine Dokumentation, nicht fiktional. Dass er mit ihr das Muster schlechthin für die Selbstverteidigung des linken Terrorismus lieferte – Wir sind keine Täter, keine Mörder, sondern Opfer! –, kann ihm nicht vorgeworfen werden. Wer innerlich einen Typus wie Werner Tötges nicht miterschossen hat, musste herzlos gewesen sein. Eine starke Verführung zur rechtschaffenen Empörung, eine Suggestion von mächtigem Rachedurst, die absolut gut schmeckte.

Es waren keine coolen Jahre. Die Verhältnisse, die waren so. Die ließen sich auch beschreiben, wie Böll es konnte.

JAN FEDDERSEN, 49, taz.mag-Redakteur, las den bereits 1975 in die Schulbibliothek aufgenommenen Roman auf dringende Empfehlung seiner Deutschlehrerin