Suche nach dem Superlehrer

Er ist nicht am Stoff, sondern am Kind orientiert. Er besitzt eine geheimnisvolle Weisheit der Praxis. Er sagt zum Schüler: „Du, auf dich kommt es an!“ Die zweiten Reckahner Bildungsgespräche ermittelten vor ein paar Tagen in Sachen Lehrerbildung

VON CHRISTIAN FÜLLER

„Dieser Mann hat Geduld und Geschick, ohne Tändelei, aber auch ohne Gewalt, seine Kinder, unausgesetzt, aber mit abwechselndem Inhalt so zu unterhalten und zu belehren, dass sie sichtbar gerne in ihrer Schule sind. (…) Die älteren darunter oder vielmehr die geübteren lesen eine Geschichte aus dem Kinderfreund mehrere Male, andere syllabierten sie ebenso. Indess verbesserte der Lehrer einige vorgelegte Schreibeproben, schrieb für einige andere Rechnungsexempel an die Tafel. Nun wand er sich an die Kleineren, ließ sie zählen, auch mündlich addieren oder subtrahieren.“

Was sich wie der letzte Schrei individueller Pädagogik in einer altersgemischten Klasse anhört, ist schon ein paar Tage her. Nicht die Beobachtungskameras moderner Bildungsforscher haben die Szene festgehalten, sondern der Hospitant Heinrich Paulus im Schulhaus zu Reckahn. Dort sah er das Geschick eines Lehrers – anno 1773.

Die Schilderung aus dieser Zeit lässt sich, aus Post-Pisa-Sicht, getrost als eine kleine Sensation bezeichnen. Es bedeutet, dass selbst im autoritären Schulwesen Preußens so etwas wie didaktische Kleinkunst betrieben wurde – und zwar eine, die heute wieder modern sein sollte. Urheber war der aufgeklärte Gutsherr Friedrich Eberhard von Rochow, dessen Unterrichtsidee im Reckahner Schulhaus im Brandenburgischen zu besichtigen ist.

Vor wenigen Tagen am gleichen Ort. Die Crème de la Crème der deutschen Lehrerbildung findet sich auf Einladung des Verbands der Schulbuchverleger in Rochows nahe gelegenem Schloss ein. Es werden die Reckahner Bildungsgespräche gegeben. Die sächsische Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange (SPD) ist da, ebenso der zuständige Lehrer-Koordinator der Kultusministerkonferenz (KMK), Hans-Gerhard Husung aus Berlin. Ewald Terhart träg vor, jener Münsteraner Professor also, der vor vielen Jahren das wichtigste Papier darüber verfasst hat, wie man Lehrer besser ausbilden könnte. Die maßgeblichen Lehrerlobbyisten sind anwesend, Philologen, Gewerkschafter, einschlägige Spitzenbeamte – und dennoch: Es ist eine gelehrsame Kakofonie, die auf Schloss Reckahn herrscht. Ein Offenbarungseid wird geleistet: Die deutsche Lehrerbildung muss dringend runderneuert werden. Aber es ist kein abgestimmtes Konzept in Sicht, keine Struktur, kein Akteur, der handlungsfähig wäre. Es gibt wenig Hoffnung auf baldige Entscheidungen. Das Licht am Ende des Tunnels glimmt für den Lehrer neuen Typs nur noch ein ganz kleines bisschen.

Dabei war sie doch das Allheilmittel, die Lehrerbildung, als nach der Pisamalaise 2001 nach Rezepten gefragt wurde. Alle, die bildungspolitisch Verantwortung trugen, verwiesen damals darauf: Wir müssen zuallererst unsere Pädagoginnen besser ausbilden. Was nicht falsch war, aber andererseits auch keine Blitzkur versprach – denn die Lehrerbildung kann ja zuallerletzt wirksam werden bei Schulreformen, rein zeitlich gesehen. Der Pisa-Koordinator aus Paris, Andreas Schleicher, spottete stets: Das wäre so, als wenn Daimler bei Absatzproblemen seiner Autos die Parole ausgebe: Wir müssen zuerst die Ingenieursausbildung reformieren.

In Reckahn waren sie nun, fünf und ein halbes Jahr danach, alle irgendwie verzweifelt: „Vieles in der Lehrerbildung läuft falsch und das seit langem und beharrlich“, gestand Ewald Terhart. Besuche von Lehrerstudenten in Schulen etwa seien allenfalls ein „punktueller Tourismus“. Der bayerische Ministerialdirektor Joseph Erhard, Amtschef und graue Eminenz der Kultusminister, gab zu, „dass wir sehenden Auges in einen Konflikt hineingelaufen sind“. Er meinte damit, ob eine Erneuerung des Lehrerstudiums mit den Studienstufen Bachelor und Master überhaupt funktionieren kann.

Damit war der aktuelle Zustand der Lehrerbildung ganz hübsch beschrieben – es ist alles unklar und wird obendrein in jedem Bundesland anders gehandhabt: Wann und wie viel Praxis sollen Lehrerstudenten kennenlernen? In welchem Verhältnis stehen Fachwissen, Fachdidaktik und die pädagogische Professionalität zueinander? Und: Lernt man das Lehrersein eigentlich in der Bachelor- oder erst in der Masterphase?

Bei so viel Tohuwabohu gefiel sich der KMK-Koordinator Hans-Gerhard Husung in einer besonderen Rolle – er gab Durchhalteparolen aus. Die öffentliche Meinung, sprich die Medien, trügen Verantwortung – sie dürften die Lehrer nicht ständig runterschreiben.

Aha, wenn Politik, Professoren und Pädagogen fünf Jahre lang wenig zustande bringen, sind am Ende die Schreiberlinge schuld.

Gutsherr Eberhard von Rochow hat einst das erste Schul-Lesebuch für Bauernkinder verfasst, zu einer Zeit wohlgemerkt, als nur ein paar Prozent Preußen überhaupt lesen konnten. Wilhelm von Türk, der diese Bücher herausgab, begeisterte an Rochow noch etwas anderes – seine Lehrkunst. „Die seltene Gabe, sich zu Kindern herab zu stimmen, sie zum Sprechen vermögen, ihre Begriffe zu entwikkeln, und in sokratischer Weise ihre Gedanken durch Fragen ihnen zum Bewußtsein zu bringen, besaß er in hohem Grade.“

Lehrkunst – so ein schönes Wort hatte man bei der Tagung der schlauen Menschen noch gar nicht gehört. Eine Pädagogik also, die sich am Kind orientiert, die Schüler begeistern will. In Reckahn war fast immer nur die Rede davon, wie die armen Lehrerstudenten das viele Wissen in Schach halten können, das sie später lehrplangemäß den Schülern einzutrichtern haben.

Doch plötzlich tauchte es auf, nicht abgeschrieben bei Rochow, sondern aus den Ruinen fünfjähriger Bauarbeiten der neuen Lehrerstatur gerettet. Der Tübinger Emeritus Ulrich Herrmann etwa sprach von einem Perspektivenwechsel – „weg von Unterricht als Stoffvermittlung hin auf die Adressaten, den Schüler“. Er fasste das kurz in der Botschaft eines idealen Lehrers an seinen Schüler: „Ich komme jeden Morgen für dich, auf dich kommt es an!“

Und sein Kollege, der Berliner Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth, kam zu einem ähnlichen Schluss – wenn auch geheimnisvoller formuliert: Es gebe eine „wisdom of practice“, eine Weisheit der Praxis des guten Lehrens, die es wieder zu entdecken gelte. Sie sei auch nicht die Summe von Fachwissen, Pädagogik und Didaktik, sondern etwas ganz eigenes, „ein Wissen eigener Dignität“.

Was das wohl ist? Vielleicht sollten die Kultusminister und all jene, die Deutschlands neuen Superlehrer ausbilden wollen, bei Rochow nachschlagen. Dessen Plan für eine gute Schule ist erfreulich knapp gehalten. Nötig sei: Erstens ein guter Lehrer; zweitens eine gute Schulordnung, sowohl was Lehre und Lehrart als auch was die Mittel betrifft; drittens ein zweckmäßiges Schulhaus; viertens ein hinreichendes Lehrergehalt.