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Archiv-Artikel

Wiedererweckte Zeichen

SZENISCHE LESUNG In seiner Erzählung „Der Blindensturz“ hat sich Gert Hofmann die Situation ausgemalt, in der Pieter Bruegels gleichnamiges Gemälde entstanden sein könnte. Montag ist der Text über Darstellungs-Gewalt als szenische Lesung zu hören

Der Bild-Parabel stellt Hofmann eine literarische Rekonstruktion gegenüber

VON ROBERT MATTHIES

„Schau … Schau doch. … Die Augen, sieht du ihre Augen?“ Ganz hingerissen ist der Maler vom Anblick der sechs stürzenden Blinden auf der Brücke, die für ihn so wunderbar die Beschaffenheit der Welt und das Geschick des Menschen zusammenfassen. Immer wieder werden sie die Böschung hochgezogen, müssen erneut stolpern, schreien und fallen, auf dass der alte Maler, selbst kurz davor zu erblinden, sein Gemälde malen kann: den „Blindensturz“, „so wie er ihn sehen will“. Bis sie schließlich nicht mehr gebraucht werden und mit blutig geschlagenen Gliedern in die Scheune zurückkehren, in der man sie am Morgen geweckt hat, um sie auf Leinwand zu bannen – als bloße Zeichen einer Bild gewordenen neutestamentlichen Parabel: „Wenn aber ein Blinder einen anderen führt, so fallen sie beide in die Grube.“

Mit seiner Erzählung „Der Blindensturz“ hat Gert Hofmann 1985 die auch heute noch gern als Gleichnis für die „Blindheit der Welt“ gedeuteten Objekte des malerischen Blicks im gleichnamigen Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahr 1568 wieder zum Leben erweckt und sich die Situation ausgemalt, in der das Bild aus dem Spätwerk des niederländischen Renaissance-Malers entstanden sein könnte: indem er sie gleichsam in das Bild hinein- und wieder heraustreten lässt, ihnen eine Geschichte, eine gemeinsame Stimme und einen kollektiven Körper gibt. Dem Sinnbild stellt Hofmann eine literarische Rekonstruktion gegenüber, die nicht weniger exakt als der wegen seines genauen und kühl distanzierten Blickes gerühmte Maler – selbst die unterschiedlichen Formen der Blindheit meint der Fachmann im Gemälde sehen zu können – sowohl den nicht selten sadistischen Ausschluss der Blinden in der mittelalterlichen Gesellschaft als auch dessen Verwandschaft mit dem voyeuristischen Kunst-Blick der Gegenwart zur Sprache bringt.

Vor allem aber löst Hofmann die Erstarrung der Zeichen auf, indem er die immer wieder zu Sturz gebrachten und darin gebannten Objekte des Bildes zu lebendigen Subjekten der Fragen und des Einspruchs werden lässt. Hofmann kehrt die Perspektive um und verlegt seine fiktive Reflexion an jenen Ort, der dem Blick immer verschlossen und in der Herstellung der Bilder außen vor bleiben muss: in das Innere einer nicht-visuellen Empfindsamkeit und das offene Intervall zwischen vergessenem Leben und erinnerter Gegenwart. In die Körper der Blinden, die bis zuletzt nicht verstehen, warum sie gemalt werden, welchen Sinn die „Verwandlung der überflüssigen und häßlichen Blinden in ihr schönes und entsetzliches, alle Menschen ergreifendes Bild“ macht.

Am Montagabend bringt die Vers- und Kaderschmiede gemeinsam mit dem Verein Autonom Leben eine szenische Bearbeitung von Hofmanns eindringlicher Erzählung auf die Bühne. Ihre Stimme leihen den stürzenden Blinden Nina Petri, Henning Venske, Rainer Schmitt, Oliver Törner und Robert Stadlober. Dazu werden Ausschnitte und Collagen aus Werken Pieter Bruegels projiziert. Und zur Feier des Finals der Spielzeit spendiert die Vers- und Kaderschmiede am Ende noch einen kleinen Imbiss.

■ Mo, 20. 6., 20 Uhr, Polittbüro, Steindamm 45