: Eine Frage des Niveaus
EILAND Sylt ist touristischer Selbstläufer und über die Insel ist alles gesagt. Nur über die Nachhaltigkeit ihres Tourismus spricht kaum jemand
■ Sehen: In der Sylt-Quelle in Rantum wird nicht nur Mineralwasser abgefüllt. Der kunst:raum sylt quelle im Quellenhaus zeigt Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Die event:halle ist die Heimat des Meerkabaretts, einer Location für Comedy, Kabarett, Theater, Konzerte und Veranstaltungen. www.sylt-quelle.de
■ Erleben: Das Erlebniszentrum Naturgewalten in List will die Naturkräfte nahebringen. www.naturgewalten-sylt.de
■ Schlafen: Das Hotel Benen-Diken-Hof gehört zu der Initiative Sylter Privathotels. www. privathotels-sylt.de und www. fremdenverkehrsamt-sylt.de
■ Literatur: Silke von Bremen: „Gebrauchsanweisung für Sylt“, Piper-Verlag, 2010, 14,95 Euro; Hans Jessel: „Sylt Sounds“, Bilderbuch und vier CDs mit Inselgeräuschen, 2011, 39,95 Euro
VON EDITH KRESTA
An der Bar des Privathotels Benen-Diken-Hof in Keitum schenkt der Chef, Claas-Erik Johannsen, selber aus. So mögen es die Gäste. Der kleine Raum ist brechend voll, verqualmt. Johannsen und seine Gäste sprechen über Sylt, über die Zukunft der Insel. „Es darf nicht sein, dass die Air Berlin oder die TUI mit ihrem lieblosen Dorfhotel Pauschaltouristen für 399 Euro die Woche hierher karren“, sagt Johannsen. „Das ist einfach nur Masse.“
„Wenn das Niveau nicht mehr stimmt, komme ich nicht mehr hierher“, droht der langjährige Stammgast aus Bochum. „Denn es ist die gute Küche, der Wein, das Golfangebot, was die Insel für mich attraktiv macht.“
Der Weinhändler Andreas Stigler vom Weingut Stigler am Kaiserstuhl bestätigt das: „Sylt hat die größte Dichte an guten Weinen.“ Er muss es wissen. Mit seiner Frau Regina ist er gerade auf Verkaufstour auf Deutschlands nördlichster Insel. Und um die Diskussion voranzubringen, holt er eine 3-Liter-Flasche „Pinöle“– 2007er Sekt Pinot, klassische Flaschengärung – aus seinem Kofferraum.
„Es muss geklärt werden, wie viele Menschen die Insel verkraftet“, sagt Johannsen und prostet seinen Gästen mit einem „Pinöle“ zu. „Und wenn jemand hier Geschäfte macht, dann sollte er auch hier leben. Das schafft Verantwortung.“
„Ich finde es schade, dass immer mehr meiner Freunde wegziehen, weil das Wohnen auf Sylt so teuer geworden ist. Ich möchte nicht im Elfenbeinturm leben, ohne gewachsene Beziehungen“, bedauert die Autorin und Gästeführerin Silke von Bremen, die in Westerland lebt.
Und der Landschaftsfotograf Hans Jessel, ihr Mann und Sylter in dritter Generation, wünscht sich, „weiter ungestörte Landschaft hier zu finden. Das ist nicht so einfach, wenn die Landschaft zubetoniert ist, wenn Windräder den Blick aufs Meer verstellen und Häuser im Naturschutzgebiet stehen“, sagt er.
„Es ist sehr wichtig, dass die Insel ein Erlebnis bleibt“, sagt Anja Johannsen, die Hotelchefin.
Zumindest an der Bar des Benen-Diken-Hof ist sie das noch. Hier wird kommuniziert. Mit oder ohne „Pinöle“. Der Benen-Diken-Hof, der wie viele hier mit ein paar Gästebetten anfing, hat sich mit anderen Privathotels zum Marketingverbund Sylter Privathotels zusammengeschlossen. Und er ist Mitglied bei Feinheimisch – Genuss aus Schleswig-Holstein e.V. zur Förderung einer nachhaltigen und regionalen Esskultur. Gehobenes Niveau, gute Küche, beste Weine, stilvolles Ambiente. Im Benen-Diken-Hof feiern Familien und erholen sich Paare. Hier blitzen teure Autos in der Sonne, hier frühstückt der sportliche Mann mit der strengen, hochgewachsenen blonden Frau – diesem teuren Blond – in Jeans, Bluse und Goldknopfjackett.
Unkonventionell, nach vorn gerichtet ist auf Sylt nichts: weder der Dresscode der Frauen noch die Zukunftsplanung. Sylt und seine Urlauber tummeln sich im saturierten Istzustand. Auf Sylt hat es der touristische Mittelstand zu erheblichem Reichtum gebracht. Hier feiert das deutsche Bürgertum sich und seinen Lebensstil, zeigt diesen gern und konsumiert selbstbewusst auf hohem Niveau. Einzig das Essen soll regional und damit nachhaltig sein.
Dass Nachhaltigkeit im Tourismus längst ein Qualitätsmerkmale ist, scheint auf Sylt noch nicht angekommen. Dabei ist die Schönheit der Insel, vor allem die Naturlandschaft des Promi-Ortes Kampen, einem veritablen Vordenker zu verdanken. Denn was wäre das schöne, berühmte Kampen mit seinen Dünen, seiner Heide, seinen Stränden ohne die Initiative von Ferdinand Avenarius? Der Dichter und Gründer der Zeitschrift Der Kunstwart verbrachte die Sommer in Kampen auf Sylt, als dessen „Entdecker und Popularisierer“ er gilt. „Er gründete um die Jahrhundertwende einen Verein zum Erhalt der Insellandschaft, woraus sich das Naturschutzgebiet Listland entwickelte, das 1924 das größte Naturschutzgebiet des Deutschen Reichs war“, sagt Silke von Bremen bei Ausblick auf die Dünen von Kampen „Es sind die Gebiete, die heute noch frei sind von Bebauung.“
Silke von Bremen ist eine engagierte Inselexpertin und eine gute Erzählerin. Sie kennt die Geschichte und die Geschichten der Insel, und sie weiß auch: „Das Großartigste, was diese Insel zu bieten hat, ist ihre Natur.“ Der vierzig Kilometer lange Sandstrand an Sylts Westküste, wo die Wellen sich mit Wucht brechen, die hohen Dünen, die Wanderdünen im Norden, die an die Sahara erinnern, die spröde Heidelandschaft und die roten Klippen – all dies ist das Inselversprechen. Doch fährt man über die knapp 100 Quadratkilometer große Insel, so bleiben dem Blick nur kurze Verschnaufpausen, um diese viel gepriesene Naturlandschaft zu genießen.
Sicherlich, Keitum ist ein idyllisches Friesendorf, verkitscht und verbutzt. Eine Puppenstube mit Reetdächern, blühenden Vorgärten, Seefahrerromatik im Heimatmuseum und gigantischen Grundstückspreisen. Kirsten ist eine der 40 Prozent Dauerbewohner hier: „Im Sommer ist die Schmerzgrenze echt erreicht“, stöhnt sie beim Schneiden der Rosen in ihrem Garten. Da fühlt man sich wie ein bestaunter Außerirdischer.“
Dafür fühlt sich der Besucher in Westerland wie in jeder anderen deutschen Kleinstadt mit all ihrem architektonischen Elend. Westerland, der größte Ort der Insel, ist ein Konglomerat wilder Stilkombinationen. Bäderarchitektur neben dem 50er-Jahre-Bau, der 70er-Jahre-Betonburg und dem 90er-Jahre-Glaspalast – von planvoller Bebauung keine Spur. Zum Glück schweift der Blick hinter den Dünen über kilometerlangen Sandstrand.
„Fährt Sylt bald grün?“, titelt immerhin die Sylter Zeitung und verweist auf die zwei Elektroautos auf der Insel, die „an der Ampel noch jeden Porschefahrer abhängen“. Und 20 Elektrofahrräder obendrein. Ohnehin ist das Rad längst Teil eines selbstbewussten Lebensstils und auf fast jeder blitzenden Familienkarosse, die Sylt ansteuert, mit dabei. Doch steht man am Bahnhof Keitum und sieht die langen Autozüge an sich vorbeirollen, während am Himmel gut sichtbar Air Berlin scheinbar im Sturzflug den Flughafen anpeilt, drängt sich die Frage auf, warum man auf der ökologisch sensiblen Insel kein nachhaltiges Verkehrssystem diskutiert und sucht. Wäre es doch ein Leichtes über den Hindenburgdamm, der die Insel mit dem Festland verbindet, den Autoverkehr zu steuern und vor allem, in den Hochzeiten im Sommer, zu beschränken. Doch das teure Auto gehört augenscheinlich zu Sylt wie Hermes, Bulgari und Joop.
Die Freunde von Sylt waren und sind die Erfolgreichen, die Reichen, die Schriftsteller und Publizisten aus Hamburg und die, die sich gern zu ihnen gesellen. Der Journalist Rudolf Walter Leonhard hat es schon 1971 im Merian beschrieben: „Dann kamen die Touristen und die Snobs und die Schürzenjäger, Gänse und Pfauen und Böcke, die Voyeurs, Fotografen und Geschäftemacher – und in ihrem Tross wieder Touristen, zehntausende, hunderttausende von Touristen.“ Und das hat sich nicht verändert, wenn die Zeitschrift Land und Meer in ihrem aktuellen „Sylt Special“ von Ole von Beust über Sabine Christiansen, Guido Westerwelle bis Eckart von Hirschhausen alle auffährt, die dem Produkt Sylt förderlich sind.
Mögen Pfauen und Snobs den Verkaufswert der Insel steigern, eine verbaute Natur wird dies auf die Dauer nicht. Wandern durchs Watt oder über den Strand, vom Himmel fliegen, im Strandkorb das Sylter Lebensgefühl genießen, golfen, radeln, edelshoppen, Prominenz entdecken, Windsurfen, sich Currywurst, Fisch oder Sterneküche schmecken lassen – so viel Aktion kann der Landschaft den Atem rauben.
Zerbrechlich schmal zeigt sich die Insel auf den Darstellungen im Museum der Naturgewalten im nördlichen List. Umtobt vom Meer, das die Insel immer weiter auffrisst. Auf dem Dach des Erlebniszentrums Naturgewalten, sorgt eine Solaranlage für warmes Wasser und eine Photovoltaikanlage für Strom. Es ist ein guter Ort für schlechtes Wetter und Zukunftsvisionen. Und das Café mit der leckeren Friesentorte ist eine Oase im Vergleich zu dem danebenliegenden Fisch-Disneyland von Gosch, dem maritimen Hofbräuhaus.
„Parkplätze wie in Vorstädten, Golfbälle im Watt und Stromkästen in der Landschaft“ – für solche und andere Verunstaltungen regt der Leser Lothar Koch in den Sylter Nachrichten die Sylter Stinkesocke an. Der Kommentator Jörg Christiansen greift die Anregung auf und fordert gleich eine Ethikkommission für Sylt. Die erste und einzige Aufgabe dieses Expertengremiums wäre es, „den Umgang mit Mensch, Natur und Sachen festzulegen“. Keine schlechte Idee.