: Ein Fall akademischer Hygiene
Jahrzehntelang interessierte sich die Uni Münster nicht für die „rassehygienischen“ Forschungen ihres Institutsleiters Karl Wilhelm Jötten. Jetzt ist die Aufregung groß über den braunen Professor, der seine Karriere nach der NS-Zeit bruchlos fortsetzte
VON PASCAL BEUCKER
Anlässlich des Jubiläums ihres 100-jährigen Bestehens wagte die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologe (DGHM) im vergangenen Jahr einen kleinen Blick zurück. Nicht nur die unmittelbaren Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, „auch die ideologische Vereinnahmung von Wissenschaftlern im Nationalsozialismus, die mit Arbeiten zur Rassenhygiene der Zwangsherrschaft und dem Völkermord zu einem pseudowissenschaftlichen Fundament verhalfen, erforderten nach 1945 einen Neuanfang“, heißt es in der Festschrift der renommierten Wissenschaftlervereinigung. Einer der Verantwortlichen für den damaligen „Neuanfang“: der vielfach ausgezeichnete Professor Karl Wilhelm Jötten, Anfang der 50er Jahre DGHM-Präsident.
Was der Bundesverdienstkreuzträger allerdings in jenen dunklen Jahren der ideologischen Vereinnahmung gemacht hatte, dafür interessierte sich jahrzehntelang niemand – weder bei der DGHM noch an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, deren Institut für Hygiene Jötten von 1924 bis 1955 leitete. Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod 1958 schreckt jetzt eine Examensarbeit auf.
Denn in seiner Arbeit – bereits vor drei Jahren als Buch unter dem Titel „Eugenik und Rassenhygiene in Münster zwischen 1918 und 1939“ erschienen – hat der Lehramtsstudent Jan Nikolas Dicke dem Wirken Jöttens nachgespürt. Kein leichtes Unterfangen, denn die Quellenlage ist schlecht. So fielen beispielsweise die Akten der Medizinischen Fakultät 1944 einem Brand zum Opfer und sind zum größten Teil vernichtet. Dicke musste sich deshalb in seiner Untersuchung maßgeblich auf Veröffentlichungen Münsteraner Dozenten in entsprechenden Fachblättern stützen. Gleichwohl reichte das, was der Student fand, um herauszufinden, was zuvor keiner hatte wissen wollen.
Schon die Machtübernahme der Nazis hatte Jötten bejubelt: „Der starke Wille der nationalen Regierung zur intensiven Pflege des Rassegedankens im deutschen Volke eröffnet nach langen Jahren vorbereitender Arbeit und vieler fruchtloser Mahnungen und Entschlüsse rassehygienischer interessierter Kreise endlich die Möglichkeit zu einem stärkeren Ausbau der Rassenpflege an den deutschen Hochschulen“, zitiert ihn Dicke. Mit seiner Begeisterung sei der Professor kein Einzelfall gewesen: Zahlreiche Eugeniker und Rassenhygieniker hätten sich 1933 „am Ziel ihrer Träume“ gesehen. Nun konnte ungehemmt „geforscht“ werden: Auf Veranlassung Jöttens und seines Assistenten Heinz Reploh – der nach Jöttens Emeritierung 1955 die Institutsleitung übernehmen sollte – mussten während der NS-Zeit rund 4.300 Schüler „erbhygienische Untersuchungen“ über sich ergehen lassen. Es handelte sich um „minderwertige“ Kinder im Alter zwischen sieben und 15 Jahren, die so genannte „Hilfsschulen“ wie die „Taubstummenanstalt Langenhorst“ besuchten.
Mehr als 20 Dissertationen über jene unter der Leitung von Jötten und Reploh durchgeführten unmenschlichen „Untersuchungen“ lassen sich in der Münsteraner Hochschulbibliothek finden. Man solle „Schwachsinnige, Debile und sozial Minderwertige aus dem Fortpflanzungsprozess ausschalten“, heißt es als grausame Empfehlung in einer von ihnen. Das dürfte den Auffassungen Jöttens nicht widersprochen haben. In einem Tagungsbeitrag sprach sich das NSDAP-Mitglied 1936 dafür aus, dass 65 Prozent aller untersuchten „Hilfsschüler“ sterilisiert werden müssten.
Nachdem die Frankfurter Rundschau und die Münstersche Zeitung jetzt die Forschungen Dickes publik gemacht haben, herrscht nun in Münster große Aufregung. Das Rektorat und die medizinische Fakultät reagierten mit „Betroffenheit“. Sie seien an der vollständigen Aufklärung der Vorwürfe interessiert, versicherte ein Universitätssprecher. Die entsprechenden Akten im Uni-Archiv seien bereits gesichert worden und würden nun systematisch ausgewertet, „damit auch dieses dunkle Kapitel der Universitätsgeschichte aufgeklärt werden kann“, sagte der Sprecher. Der Fall dürfe „nicht mit einer reflexartigen Distanzierung von Universität und Fakultät abgetan werden“, fordert die Studierendenvertretung. „Es geht nicht um einen dunklen Fleck“, so die AStA-Vertreterin Annelie Kaufmann, „sondern um die Bedeutung der Uni Münster für die rassistische Medizinforschung im NS und ihre Kontinuität danach“. Ein Bruch und eine kritische Auseinandersetzung mit der „Rassenforschung“ habe nach dem Krieg nicht stattgefunden. Ein weiterer Beleg dafür sei die Anfang der 50er Jahre erfolgte Berufung des Rassen- und Zwillingsforschers Otto Verschuer, Doktorvater des KZ-Arztes Josef Mengele, an die medizinische Fakultät.
Auf jeden Fall zerstören die jetzt bekannt gewordenen Enthüllungen eine lang gepflegte Lebenslüge der drittgrößten Hochschule der Bundesrepublik. „Offenen Widerstand“ habe es in der medizinischen Fakultät zwar nicht gegeben. Aber zumindest, so ist in einem im Auftrag des Rektors 1980 herausgegebenen Buch zu lesen, habe sich seinerzeit gezeigt, „dass rechtliches Denken und dass die aus münsterländischem Selbstbehauptungswillen und treuer Kirchlichkeit genährte, alteingewurzelte Skepsis gegen die Reichsregierung, ob nun protestantisch-preußisch oder nationalsozialistisch, ein wirksames Bollwerk gegen die bedingungslose und vorbehaltlose Hinnahme der neuen Herrschaft bildete“. Wenn es denn nur so gewesen wäre.