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Archiv-Artikel

Auf Wiedersehen in Europa

Was Jugoslawien sein wollte, was es war. Warum es blutig zerbrach, der Frieden nicht gesichert ist und es dennoch Hoffnung gibt

Ivan Ivanji

■  Geboren am 24. Januar 1929 als Sohn einer jüdischen Ärztefamilie in Zrenjanin (Serbien), von März 1944 bis April 1945 in Auschwitz und Buchenwald inhaftiert.

■  Tätigkeit als Lehrer, Schriftsteller, Journalist, Lektor, Dramaturg, Theaterdirektor. 1974 bis 1978 Botschaftsrat in Bonn, bis 1981 Mitarbeiter des Außenministeriums. Zwanzig Jahre lang Deutschübersetzer Titos und der jugoslawischen Staats- und Parteiführung.

■  Schreibt seit 1951 (auf Serbisch, später auch auf Deutsch) Romane. Zuletzt erschien „Buchstaben von Feuer“ (Picus, 2011).

VON IVAN IVANJI

Im Alter wird man entweder unkritisch oder so kritisch, dass man alles infrage stellt. Ich gehöre zur zweiten Sorte. Zu viel von dem, was ich für richtig gehalten, woran ich geglaubt habe, hat sich als Illusion erwiesen.

Ich habe Joseph Roth gern gelesen. Wieso hat er Kakanien nachgeweint? Weiß man heute noch, was „Kakanien“ genannt wurde? Liebevoll und doch ironisch das „Kaiserlich und Königliche“, die österreichisch-ungarische Monarchie. Jammere ich, wie er, weil es Jugoslawien nicht mehr gibt? Tito hat man mitunter „den letzten Habsburger“ genannt. Er hat es gewusst, war nicht böse, sondern hat es belächelt.

Ich habe viele autobiografische Bücher der am Zerfall Jugoslawiens unmittelbar beteiligten Politiker gelesen und verglichen, wie sie über Ereignisse, an denen sie teilgenommen haben, berichten. Zum Beispiel die Bücher der letzten Präsidiumsmitglieder aus Kroatien und Serbien, Stipe Mesic und Borisav Jovic, des letzten Verteidigungsministers Jugoslawiens, Veljko Kadijevic, und des ersten Verteidigungsministers des unabhängigen Slowenien, Janez Jansa. Da fügt sich ein allgemein verständliches Puzzle zusammen. Es geht freilich nicht darum, dass Jugoslawien von der Landkarte verschwunden ist, sondern wie, mit wie vielen Toten, Vertriebenen, Beraubten, Misshandelten, Vergewaltigten, mit welchen materiellen und geistigen Verlusten.

Von Amerika aus hat man seinerzeit Jugoslawien mit der Tschechoslowakei verwechselt, von „Tschechoslowakien“ gesprochen. Aber die Tschechen und Slowaken haben sich elegant voneinander verabschiedet, Jugoslawien aber ist im schrecklichsten Blutbad, das Europa nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, untergegangen. Warum? Die meisten Antworten bleibe ich schuldig, weil ich sie nicht kenne. Es ist leichter, Fragen zu stellen.

Einige Analytiker haben die Katastrophe für die Zeit nach Titos Tod vorausgesagt. Ich habe mit ihnen diskutiert und behauptet, das auf Arbeiterselbstverwaltung und Blockfreiheit begründete System würde überleben, mein Land gehöre in keiner Weise zum „kapitalistischen Westen“ oder dem „stalinistischen Osten“, sei „etwas Drittes“, nirgendwo im Westen sei der Mensch sozial so sicher, nirgendwo im Osten so frei.

Habe ich keine Anzeichen des Zerfalls gesehen? Ich habe sie gesehen, aber nicht wahrnehmen wollen.

Mich nervte eine Phrase, die Tito oft wiederholte: „Hütet die Brüderlichkeit und Einigkeit unserer Völker wie euren Augapfel.“ Ich dachte: „Was soll’s, das ist eine Selbstverständlichkeit.“ Als sein Dolmetscher konnte ich ihn aus der Nähe sehen. In seinen letzten Lebensjahren war er oft schlecht gelaunt. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, setzte er die freundlich-interessierte Maske des Staatsmannes ab, sein Gesicht verwandelte sich in eine schmerzvolle Grimasse. Damals erklärte ich mir das mit den physischen Schmerzen, mit denen er zu kämpfen hatte. Heute glaube ich, dass er auch das Ende seines Lebenswerks, seines Jugoslawiens, voraussah.

Ich kannte die wirtschaftliche Ungleichmäßigkeit der Landesteile. Hier beschreibe ich sie auf Grund des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf aus dem Jahr 1988 (dargestellt in US-Dollar):

– Slowenien: 5.918

– Kroatien: 3.230

– Vojvodina: 3.061

– Serbien: (ohne Vojvodina und  Kosovo): 2.238

– Montenegro: 1.754

– Bosnien-Herzegowina: 1.573

– Mazedonien: 1.499

– Kosovo: 662

Das konnte nicht gut gehen. Die Reichen wollten nicht mehr Geld in Fässer ohne Boden pumpen, die Ärmsten platzten vor Neid.

Als eine Stunde nach der Meldung über Titos Tod am 4. Mai 1980 das Fernsehen live die Sitzung des Staatspräsidiums übertrug, auf der Lazar Kolisevski mit belegter Stimme urbi et orbi sagte: „Auf Grund der Verfassung übernehme ich den Vorsitz“, dachte ich: Es wird gelingen, wir bleiben bestehen. Das Staatspräsidium bestand aus acht Mitgliedern, die von sechs Republiken und zwei autonomen Gebieten gewählt waren und reihum den Vorsitz ausüben sollten. 1986/87 wurde der Schriftsteller Sinan Hasani, ein Kosovo-Albaner, Vorsitzender des Staatspräsidiums und damit Präsident des ganzen Jugoslawiens. Ich gratulierte und sagte: „Endlich habe ich einen Staatschef, mit dem ich per du bin.“ Er antwortete: „Ja, jetzt wo das niemand mehr nützt.“

Verdächtig hätte mir mein eigenes Benehmen sein sollen. Slobodan Milosevic putschte sich parteintern 1987 an die Spitze des Bundes der Kommunisten Serbiens. Ich kannte ihn gut genug als den jüngeren Bruder meines Kollegen, Borislav Milosevic, der Titos Russischdolmetscher war, um die Partei, der ich seit 1951 angehörte, zu verlassen. Ich schrieb: „Ich komme zu keinen Sitzungen mehr und werde keine Mitgliedsbeiträge zahlen. Ich weiß nicht, wie ihr das behandeln werdet, ich habe jedoch nicht den Eindruck, dass ich aus der Partei ausgetreten bin, sondern dass sie aus sich selbst herausgetreten ist.“

Nach Vorträgen, die ich in Deutschland gehalten habe, pflegte ich auf die Frage über die Feindschaft zwischen Serben und Kroaten zu antworten, das sei nicht anders als zwischen den Bayern und den übrigen Deutschen. Wie sehr ich mich in dieser Hinsicht geirrt habe! Ich behauptete aber auch, das Problem der Zukunft liege im Kosovo, dort herrsche Ruhe, solange Enver Hoxha lebe, und man sage, in Albanien ist es noch schlimmer. In dieser Hinsicht habe ich leider recht gehabt.

Von meiner Wohnung in Belgrad konnte ich 1991 hören, wie über die Autobahn unendlich lange Panzerkolonnen Richtung Westen donnerten. Wer könnte dieser Macht widerstehen? Die Antwort kennen wir auch aus Vietnam oder Afghanistan: Militärische Übermacht gegen Freiheitswillen. Brecht schrieb übrigens: „General, dein Tank ist ein starker Wagen. Aber er hat einen Fehler: Er braucht einen Fahrer.

Ich kannte Milosevic gut genug, um die Partei, der ich seit 1951 angehörte, zu verlassen. Ich hatte jedoch nicht den Eindruck, dass ich aus der Partei, sondern dass sie aus sich selbst herausgetreten war

In Jugoslawien war der „Fehler“ schon zu Titos Zeiten „einmontiert“. Aus Angst, von der UdSSR überrollt zu werden, wurden neben der Armee Kräfte der „territorialen Verteidigung“ ausgebaut. Vorbild war der Partisanenkampf gegen die deutsche Besatzungsmacht. Ich habe aber seinerzeit für den jugoslawischen Generalstab auch Handbücher der schweizerischen Armee übersetzt. So weit wie dort, die Gewehre samt Munition zu Hause bei den Wehrpflichtigen zu halten, wollte man bei uns nicht gehen. Aber Waffen, Gerät, Fahrzeuge und so weiter waren in Gemeinden und größeren Fabriken gelagert. Diese territoriale Verteidigung bildete die Befreiungstruppen gegen die gesamtjugoslawische, unmotivierte Armee.

Ich bin überzeugt davon, dass Slobodan Milosevic den Krieg losgetreten hat. Memoiren seiner nächsten Mitarbeiter beweisen es. Er wollte Slowenien aus dem gemeinsamen Land hinausekeln, Mazedonien war ihm nicht wichtig. Wenn man Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro zu einem einzigen, zusammengeschweißtes Territorium machen würde, wäre die serbische, also seine, Mehrheit unangefochten. Natürlich hätte er ohne ähnliche „nationale Helden“, wie Franjo Tudjman (Kroatien) oder Alija Izetbegovic (Bosnien-Herzegowina) nichts erreichen können.

Auf den Trümmern des ehemaligen Jugoslawiens stehen heute die souveränen Staaten Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien und das nicht in internationale Organisationen aufgenommene, Kosovo genannte Phänomen. Die Grenzen zwischen diesen Ländern sind 1945 willkürlich und teilweise unlogisch von einer Kommission des Tito-Regimes gezogen worden, aber sie sind heute international anerkannt.

Damit ist dieses Kapitel auf dem Balkan nicht abgeschlossen. Nichts wird besser, wenn es unter den Teppich gekehrt wird, unbeobachtet wird es immer schlimmer. Das Abkommen von Dayton ist schlicht unmöglich, Bosnien und Herzegowina, sowie es heute existiert, ist nicht lebensfähig.

Dieses Territorium war jahrhundertelang Teil des Osmanischen Reiches, Österreich-Ungarns, Jugoslawiens. Eine „bosnische Nation“ und eine bosnische Sprache mussten erst erfunden werden; es handelt sich um Serben oder Kroaten, die sich zum Islam bekennen. Kosovo hat seit dem Mittelalter, als auf dem Balkan – übrigens genau wie in Deutschland – eine Vielzahl kleiner, feudaler Staaten existierte, nur von 1913 bis 1915, von 1918 bis 1941 und von 1945 bis 1999 zu Serbien gehört.

Serben und Albaner lebten in einem Imperium, das wir der Einfachheit halber Türkei nennen. Der albanische Freiheitsheld Skanderbeg kämpfte genau so gegen diese Besatzungsmacht wie die serbischen Fürsten. Auf dem Berliner Kongress 1878 wollte Bismarck nichts „von diesen Hammeldieben auf dem Balkan“ hören. So zog man willkürlich die Grenzen Serbiens, Bulgariens und Montenegros, lehnte jedoch die Bildung eines albanischen Staates ab.

Für die Analyse der jeweiligen exjugoslawischen Länder bräuchte ich je eine Seite der taz. Die kurze Version: Das Pulverfass steht, die Lunte ist ausgelegt, ringsum werden Zigaretten geraucht. Ob per Zufall oder absichtlich, wenn sich Amerika und/oder Europa umdrehen, wird es … Nein, das mag ich nicht zu Ende denken und schon gar nicht aufschreiben.

Gibt es Hoffnung? Ja, die gibt es. Ich bringe sie auf einen Nenner: Auf Wiedersehen in Europa. Möglichst in einem Europa der Regionen, in dem es keine Grenzen gibt, die Nationen jedoch als Folklore gepflegt und gehätschelt werden.