: War er’s? War er’s nicht?
In das umstrittene Verfahren gegen einen dringend des Raubmordes verdächtigten Bäcker aus der baden-württembergischen Provinz kommt nun wieder Bewegung – jetzt sitzt er wegen Diebstahls
VON PHILIPP MAUSSHARDT
Der vom Karlsruher Bundesgerichtshof kassierte Freispruch eines mutmaßlichen Mörders wühlt ein kleines Dorf wieder auf. Ihr Bäcker ist vielleicht ein ganz schlimmer Verbrecher.
Ein Jahr lang lebte der Mörder unter ihnen. Beziehungsweise der unschuldige Mörder. Der Alfred eben. Das letzte Jahr lebte Bäckermeister Alfred B. in seinem Heimatdörfchen Siegelsbach, doch man sah ihn kaum. Die Rollläden waren meist heruntergelassen, aus dem Haus traute sich der 49-Jährige nur selten. Die Bäckerei blieb geschlossen. Brezeln und Laugenweckle mussten aus dem Nachbardorf angeliefert werden.
Des Bäckers Zurückhaltung hatte einen guten Grund: Mindestens die Hälfte der 1.700 Einwohner von Siegelsbach im beschaulichen Heilbronner Umland (Baden-Württemberg) hielten Alfred B. für den Mörder an einer Rentnerin und für denjenigen, der den Ehemann der Rentnerin und einen jungen Bankangestellten am 7. Oktober 2004 schwer verletzte. Die andere Hälfte des Dorfes schwieg. Vielleicht hatte der Richter am Heilbronner Landgericht ja doch Recht gesprochen, als er den Angeklagten am 21. April 2006 wegen „erwiesener Unschuld“ freigesprochen hatte.
An jenem Oktobertag war die Kreissparkasse von Siegelsbach überfallen worden. Kurz nach der Mittagspause hatte ein Mann die kleine Filiale betreten, eine Pistole gezogen und den einzigen Angestellten der Bank mit dem Knauf so niedergeschlagen, dass er nur mit viel Glück überlebte. Ein Rentnerpaar, das in diesem Momente die Bank betrat, wollte der Täter als Zeugen aus dem Weg räumen: Er erschoss die Frau und glaubte, auch deren Mann erschossen zu haben. Die Kugel hatte jedoch um Millimeter die Wirbelsäule verfehlt. Bankangestellter und Rentner sagten später aus, sie hätten in dem Täter den Dorfbäcker Alfred B. erkannt. Die geraubte Summe von 33.514 Euro fand man zum großen Teil versteckt in seinem Kühlschrank. In seinem Auto wurde die Blutspur eines der Opfer entdeckt. Nur die Tatwaffe blieb verschwunden.
Der Freispruch hatte nicht nur in Siegelsbach Fassungslosigkeit ausgelöst. Staatsanwalt und Ermittler sprachen von einem „unglaublichen Fehlurteil“, und selbst der Angeklagte weinte bei der Urteilsverkündung vor Freude und Erleichterung über sein Glück. 559 Tage hatte Bäcker Alfred in Untersuchungshaft gesessen und geschwiegen. Die Bäckerei, in die er zurückkehrte, war pleite und geschlossen. Seine Frau hatte ihn schon davor verlassen, die beiden Töchter, die an seine Unschuld glaubten, waren weggezogen. Nur noch die gehbehinderte Mutter lebte in Siegelsbach. Der Kühlschrank war jetzt leer, als Hartz-IV-Empfänger buk Alfred B. nur noch kleine Brötchen.
Die Siegelsbacher haben bis heute nur ein Thema: War er’s? War er’s nicht? Ein Dorfbewohner, der den Bäcker bis zu seiner Verhaftung „eher als aggressiv“ erlebt hatte, begegnete an den wenigen Tagen, an denen Alfred B. sein Haus verließ, einem ganz anderen Mann: „Der war auf einmal scheißfreundlich, der hat zwei Gesichter.“ In Siegelsbach glauben die meisten jedenfalls an eine Verurteilung. Die Nachbarin des niedergeschossenen Rentners ist erleichtert: „Wenn mein Nachbar sagt, der war’s, dann war er’s auch.“
Viele hofften auf eine Entscheidung durch den Bundesgerichtshof, bei dem die Staatsanwaltschaft Heilbronn sofort die Revision des Urteils beantragt hatte. Pfarrer Daniel Fritsch glaubt noch an die Gerechtigkeit auf Erden: „Das Urteil kommentiere ich nicht, aber mir ist daran gelegen, dass hier der Frieden wieder einkehrt. Die Wahrheit muss ans Licht, die Wahrheit, was hier im Dorf passiert ist.“
Das soll nun durch das Stuttgarter Landgericht geschehen. Alfred B. wurde noch am Dienstagabend verhaftet. Aber nicht wegen Mordverdacht. Weil dazu von der Staatsanwaltschaft erst die Akten überprüft werden müssen, musste ein Vorwand herhalten. Zum Glück hatte Alfred B. vor vier Jahren einen herrenlosen Generator aus einem verlassenen Bundeswehrdepot mitgenommen. Jetzt sitzt er erst einmal wegen Diebstahls.