: Ethnischer Schwindel
Ein zuvor lange vergessener Begriff beherrscht plötzlich den politischen Diskurs – um ihn zu entpolitisieren
Es ist schon erstaunlich, wie beharrlich der Begriff der Ethnie seine positive Aufladung verteidigt. In Deutschland kennen ihn die meisten noch gar nicht so lange. Die meisten haben ihn hier anlässlich der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien in den eigenen Wortschatz aufgenommen. Im allgemeinen Unwissen über die politisch-ökonomische Situation im österreichischen Nachbarland blitzten nun Bosnier, Kosovo-Albaner, Serben als Orientierungsmarker auf. Und auch wenn das nicht viel erklärte, war eines damit in jedem Fall gesagt: Ein Zusammenleben dieser „Volksgruppen“ geht nicht. Das gilt es zu akzeptieren.
Nehmen wir ein zweites Beispiel: den Irak. Spätestens seit der zweiten Invasion des Landes haben wir hierzulande gelernt, dass dort Schiiten, Sunniten und Christen leben. Ähnlich wie im Falle Tito gestand ihnen auch hier ein Machthaber kein Recht auf Selbstentfaltung zu. Obwohl zwischen der gesellschaftlichen Situation im ehemaligen Jugoslawien und dem Irak Welten liegen, kann das der hegemonialen Ethnienerzählung nur wenig anhaben. Dass unterschiedliche Religionen im fernen Ausland keinen Kommunikationsmodus finden können, gilt als Common Sense. Für das eigene Land wäre es natürlich absurd, von zivilgesellschaftlich relevanten Divergenzen zwischen Katholiken und Protestanten zu sprechen. Umso wichtiger, sich immer wieder Originalstimmen zu Gemüte zu führen. Eine bedeutsame für den Irak ist die Bloggerin aus Bagdad, die unter dem Pseudonym „riverbend“ in unregelmäßigen Abständen und perfektem Englisch die Zustände in ihrem Land aus einer Alltagsperspektive sarkastisch kommentiert. Längst ist „riverbend“ kein Geheimtipp mehr. Ihre Texte aus den Jahren 2003 bis 2004 sind ins Deutsche übersetzt und von Sophie Rois auf eine CD gesprochen worden: „Burning Bagdad“ erschien letztes Jahr. 2005 hat „riverbend“ den britischen Literaturpreis Ulysses Award gewonnen. Ihre Anonymität aber hat sie nie preisgegeben.
Zuletzt meldete sich die Informatikerin aufgrund einer Vergewaltigung im Irak zu Wort. Es ging durch die Medien: Eine verheiratete Irakerin hat vor laufenden Al-Dschasira-Kameras irakische Sicherheitskräfte beschuldigt, sie mehrfach vergewaltigt zu haben. Ein Erstfall. Im Irak zuzugeben, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein, bedeutet, sich und, schlimmer noch, die Familie in Schande zu stürzen. Für „riverbend“ ist Sabrine al-Dschanabi „wahrscheinlich die mutigste irakische Frau überhaupt“.
Was die Bloggerin unendlich aufbringt, ist, dass Präsident al-Maliki den Vorfall, nachdem er nicht mehr zu leugnen ist, postwendend in ein weiteres „Sunniten-Schiiten-Debakel“ umwandelt. Die Ethnienerzählung fungiert so als planer Deckdiskurs von politischen und ökonomischen Interessen. Als ob die Religionszugehörigkeit bei dem aktuellen Rassismus gegen Frauen im Irak eine Rolle spielte. Als ob der Umstand, dass seit dem US-amerikanischen Einmarsch die Fundamentalisten in ganz neuem Maßstab Zulauf haben, eine Frage der Religion oder der Essgewohnheiten und nicht etwa der grundlegenden Zerstörung der Zivilgesellschaft und ihrer ökonomischen Ressourcen sei. Zweifellos hat diese bereits unter Hussein massiv Schaden genommen, aber – und „riverbend“ wird das nicht müde zu wiederholen – erst unter der Besatzung wurde sie ausgelöscht.
Einen Grund – unter vielen – für diese Zerstörung sieht „riverbend“ daher auch in der ihr unsinnig bis heuchlerisch erscheinenden Ausrichtung der Politik an einem ethnischen Proporzsystem. Die ethnische Zughörigkeit habe hier Vorrang vor politischer Kompetenz. Die politische Korrektheit schütze daher mal den Tribalismus, mal mafiöse Interessen und nicht selten beides. Ein martialischer Machismo, der dazu beiträgt, die irakische Gesellschaft in einen vorzivilen Zustand zurückzuwerfen, mag von religiösen Traditionen befördert werden. Seine Verbreitung und Legitimierung aber ist Effekt der zerstörten Möglichkeit, eine Zivilgesellschaft zu verteidigen. Und dass die Gründe hierfür in widerstreitenden internationalen Hegemonieinteressen zu finden sind, wird wohl niemand ernsthaft infrage stellen.
INES KAPPERT