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Archiv-Artikel

Der Siegeszug des Flechtgebäcks

Noch vor wenigen Jahren war sie in nördlichen Gefilden so gut wie unbekannt: ein Exot in der Backstube, missachtet und missbraucht. Doch die kulinarischen Grenzen verwischen. Die Brezel ist nicht mehr aufzuhalten. Auch wenn es noch weit ist bis zu bayerischen Verhältnissen am Tresen

VON ARMIN SIMON

Es waren Jahrmarkt-Stände, die sie nach Bremen brachten. Auf dem Freimarkt lagen sie, hinter gelblichem, verkratztem Plexiglas, in einer Bude, außen mit Plastik-Fachwerk verziert, innen mit bayerischen Ländlern beschallt. Exotisch und fremd. Fleischige Teiglinge mit wülstigen, ineinander verlaufenden Armen, deren aufquellende Hefe das Luftloch, die Augen, zu schmalen Schlitzen hatte zusammenschrumpfen lassen. Teigmassen, vorne so dick wie hinten, obendrauf zerlaufener Käse oder eine Scheibe Ananas oder ein Rest Tomate oder alles zusammen. Die Frucht war halb eingesunken in den Teig, halb hatte sie ihn aufgeweicht. Seine Kruste war matt, die Farbe irgendwo zwischen dreckbraun und schwarz, und sie blieb beim Kauen am Gaumen kleben, samt bitter-ätzendem Geschmack. Die so genannte Brezel, angeblich bayerisch, kostete drei Euro. Der Absatz war mäßig.

Nein, Bremen ist kein Brezelland. „Das ist kein typisch norddeutsches Gebäck“, räumt Wilfried Schnaare, Obermeister der Bremer Bäckerinnung, ein. Laugenwecken, Laugenstangen, Laugenspitz und Laugenbrezel zählen hierzulande als nebensächlicher C- oder D-Artikel, ihr Marktanteil liegt, zusammengenommen, unter einem Prozent. Noch.

Denn die kulinarischen Grenzen verwischen. Der Siegeszug der Natronlauge ist langsam, aber unaufhaltsam. „Das kommt vom Süden in den Norden rein“, weiß Schnaar, das Ergebnis: „Multi-Kulti“. Beziehungsweise Laugenstangen in den Auslagen Bremer Bäckereien. Den Anfang machten Großketten wie Ditsch, die auch in Bremen nichts außer in Lauge getauchte Backwaren verkaufen. Die lokalen Bäckereien ziehen, langsam und mit kleinen Mengen, aber eine nach der anderen, nach.

Vor allem „im Snackbereich“, also als belegte Brötchen, erfreuen sich die braunen Teile zunehmender Beliebtheit. Ausnahme ist die Brezel: Die lässt sich schlecht belegen – und unbelegt wissen Norddeutsche irgendwie nichts mit ihr anzufangen. „Nur für Kohlfahrten“ würden die geschlungenen Backwaren geordert, berichtet Schnaar: „Die Leute hängen sich die um den Hals.“

Wobei das „Flechtgebäck“, dessen rösche Ärmchen im besten Fall mit hellem Knacken brechen, die Flachland-Bäcker erst einmal vor infrastrukturelle Probleme stellt. „Sie müssten mal sehen, wie die in München die Brezeln machen“, sagt Schnaar, und man weiß nicht so genau, ob er das neidisch meint: „Die haben Anlagen dafür, die machen das richtig professionell.“ 2.500 Exemplare wirbelt ein bayerischer Brezel-Roboter in einer Stunde aufs Blech. In Bremen ist alles Handarbeit. Angeblich deswegen sind die Brezeln hierzulande auch deutlich teurer als im Süden.

Wegen des „Arbeitsaufwandes“ fertigt auch Günter Schmieder seine Brezeln – Stückpreis: 70 Cent – nur auf Bestellung. Obwohl Schmieder, einziges Bremer Mitglied im Slow-Baking-Verein (siehe Text unten), an sich als einer der Laugenpioniere unter den Bremer BäckerInnen gilt. Vor gut 20 Jahren schon hat er zum ersten Mal Teiglinge in Natronlauge getunkt, bevor er sie in den Ofen schob, zehn bis 20 Stück am Tag, mehr nicht. Er weiß, dass in einen Laugengebäck-Hefeteig „mehr Fett“ gehört und dass er fester sein muss als andere Teige – schon, damit die Brezeln nicht so verlaufen. Die Warnung eines Kollegen, die Lauge sei „nicht ganz ungefährlich“, hält er dagegen für übertrieben. Handschuhe streift er trotzdem über: „Sonst gibt das braune Finger.“

Samstags verkauft Schmieder inzwischen bis zu 100 Laugenteilchen, bei 2.500 Brötchen insgesamt entspricht das einem Anteil von immerhin vier Prozent – bei „steigender Tendenz“, wie der Bäcker betont. Schon rufen frühmorgens Stammkunden an, um sich ihr Salzgebäck zurücklegen zu lassen. Und das Wachstumspotenzial bleibt riesig. Aus dem Urlaub kennt Schmieder die Brezelberge, die seinen KollegInnen südlich des Mains als Kundenfang dienen. „Faszinierend“, findet er.