Wettkampf schützt vorm Sterben nicht

DRAMA Höher, schneller, weiter – das Theater Bremen potenziert „Faust“ über zehn Stufen, bis Goethe sich ins Geisthafte verflüchtigt hat und von Elfriede Jelineks Zerstörungssuada nur Sentenzen aufflackern

Ein Sargmobil holt die durchgeschwitzten Faust-Leiber ab

Da kommt nach fast 200-jährigem Warten endlich der Tragödie dritter Teil heraus, posthum von Elfriede Jelinek als subversive Zerstörungssuada verfasst. Und das Theater Bremen hat sich flottsam die Aufführungsrechte gesichert, die nur vergeben werden, wenn auch das Prequel des deutschen Dichterfürsten auf dem Spielplan erscheint. Also ist alles vorbereitet für ein dreiteiliges „Faust“-Fest. Und dann das!

Von Jelineks assoziativem, Sinn in Unsinn lausbübinnenhaft verdrehendem Wortgestöber, „FaustIn and Out“, werden nur ein paar Sentenzen zum Thema Arbeit zu Gehör gebracht in einer Film-Ouvertüre! Huh! Und was dann kommt, ist eine performative Installation des Faustischen Dranges, ein lebendes Bild des maßlosen Strebens des modernen Menschen, seiner ständigen Versuche, die Möglichkeiten des Konsums, des Genusses, des Faust-Seins zu potenzieren – hinein ins Unendliche.

Weswegen der Abend auch nicht „Faust I-III“, sondern „Faust hoch zehn“ betitelt ist: Nie zufrieden sein, nicht verweilen können, immer weitere Kicks in der nächsten Erfahrung suchen: Goethe ließ hierbei den alten Mephisto-Zausel den Wunscherfüllungszauber zelebrieren.

In der Regiearbeit von Felix Rothenhäusler sind es die acht Faust-Darsteller selbst, die ihr Wollen, in Bewegung zu bleiben, auch veräußerlichen. Fortwährend trippeln, hüpfen, springen, stampfen sie – und das mit erstaunlich rhythmischer Präzision. So wie ihr gelehrtes Vorbild wollen sie raus aus der Studierstube, aber auch raus aus dem „Faust“-Drama und dem sozialen Miteinander. 90 Minuten nehmen sie als Slam-Poetry-Artisten mal ein Wort, eine Idee, eine Szene des Werks als Ausgangspunkt für Fantasiereisen zu immer neuen Grenzüberwindungen. Nur in „anmutiger Gegend“, in der Faust den zweiten Teil seines Austobens vorbereitet, kehrt die Aufführung mal kurz ein mit einem idyllisch genauen Naturbeschreibungsmonolog. Um dann noch schneller, weiter, höher, schöner, größer, verwegener zu denken – und diese Bewegung dynamisch zuzuspitzen. Einerseits ist das als Turbo im Leerlauf zu erleben, andererseits aber auch als Körper anspannende Energieschübe: der Antrieb, produktiv zu sein.

Dem Ende des wilden Lebens aber, koste es, was es wolle, entkommt keiner: Ein Sargmobil holt die durchgeschwitzten Faust-Leiber ab. Der Bühnenmusiker dreht zum Epilog seine kuschelfreundlich groovenden Klänge richtig auf, so dass Happy-End-Gedanken nicht aufkommen. Bedrückt, bedrängt durch zielloses Vorwärtsstreben: Jetzt erwacht die Sehnsucht nach Ruhe, Einkehr, Stopp.

Erschöpfte Hochachtung.

Das Prinzip faustischen Lebens ohne ein „Faust“-Wort nachvollziehbar und geradezu physisch erlebbar gemacht zu haben, das gelingt diesem anstrengenden und durchaus etwas zu langen Abend. Also der Beweis, dass Theater mehr kann, als Texte bebildern.  JENS FISCHER

Faust hoch zehn, eine Arbeit von Felix Rothenhäusler und Tarun Kade, nächste Termine: 25. 10. & 31. 10. sowie 5. & 20. 11., stets 20 Uhr, Schauspielhaus