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Archiv-Artikel

Familie aus der Tonne ernährt

ENGAGEMENT Nahrungsmittelverschwendung ist pfui, containern out. Wer heute Lebensmittel retten will, macht das organisiert und offiziell. Der Kreis der Abnehmer ist so weit wie der Kreis der Spender

VON MARCO CARINI

Die Marktfrau grüßt freundlich, als sie das Trio erblickt, das einen Fahrradanhänger hinter sich her zieht, auf dem sich die Kunststoffkisten stapeln. Bodhi, Carola und Natija sind längst keine Unbekannten mehr für die Mittvierzigerin, die am Hamburger Isemarkt Gemüse verkauft. Jedes Mal, wenn sich die Marktzeit dem Ende entgegen neigt, sind sie hier auf Tour, um „Lebensmittel zu retten“.

In einer Ecke des Gemüsestandes warten schon drei Kisten auf sie, randvoll mit Waren, die am nächsten Tag nicht mehr frisch genug wären, sie noch zu verkaufen. Gurken, Paprika, Kartoffeln und eine große Ingwerknolle hat die Händlerin heute eingepackt, dazu gibt es noch einen großen Karton mit Petersilie.

Zwei Minuten später sind die Lebensmittel auf dem kleinen Anhänger verstaut, das Trio bedankt sich freundlich und setzt seinen Weg fort. Denn noch ein halbes Dutzend anderer Marktbeschicker wartet darauf, Ihnen das in die Hand zu drücken, was nicht mehr ganz frisch ist.

Kurz darauf stoßen sie auf eine zweite Gruppe, die sich nur durch das Transportgefährt von ihnen unterscheidet. Ein altes Holzregal haben die Aktivisten auf Räder montiert und mit einer Deichsel versehen. Auch auf dem rollenden Regal stapeln sich bereits jede Menge Kästen mit gespendetem Obst und Gemüse.

Bodhi, Carola und Natija sind „Foodsaver“. Mehrere Stunden pro Woche sind sie unterwegs, um Lebensmittel, die sich so langsam ihrer Haltbarkeitsgrenze nähern, vor der Mülltonne zu bewahren. Sie haben feste Geschäfte und Stände, die sie zu festgelegten Uhrzeiten anlaufen: Supermärkte, Bäckereien, Bio-Läden und Obsthändler stehen auf ihrer Liste.

Carola, die klinische Psychologie an der Uni-Hamburg studiert, ist seit einem knappen Jahr dabei. Rund 15 Stunden wendet die 24-Jährige pro Woche auf, um Lebensmittel vor der Tonne zu retten und dann zu verteilen. So viel, wie in ihren blauen Wanderrucksack hineingeht, nimmt sie mit und verschenkt die verderbliche Ware dann an Kommilitonen, Nachbarn, Freunde und Obdachlose. Oder sie packt sie einfach in einen extra bereitstehenden Kühlschrank im Café Knallhart, einem selbstverwalteten Studenten-Treff auf dem Uni-Campus. Über die hier zusammenkommenden Lebensmittel wird auch schon mal ein Teil der Hamburger Lampedusa-Flüchtlinge mit Essen versorgt.

Manchmal verteilt Carola das Gut auch einfach an einer Straßenkreuzung. „So kommt man mit den Leuten ins Gespräch und die meisten sind ganz begeistert von der Idee“, freut sich Carola. Die Idee ist einfach. 6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel werfen die Deutschen jedes Jahr weg. Das sind 82 Kilo pro Person und das muss nicht sein, findet Carola. Denn die meisten Lebensmittel, die in den Abfalltonnen landen, sind noch genießbar. „Ich will ganz praktisch etwas gegen diese Verschwendung tun“, sagt sie.

Und dieses Anliegen teilt sie mit immer mehr, meist jungen Leuten. Allein in Hamburg haben sich in den vergangenen Monaten rund 500 Helfer bei lebensmittelretten.de registrieren lassen. Knapp 200 von ihnen sind als Lebensmittelretter im Einsatz. Und nicht nur in Hamburg ist der Verein, der hinter dieser Webseite steht, aktiv. Auch in Hannover, Bremen, Kiel, Lübeck, Braunschweig, Wolfsburg und vielen anderen norddeutschen Städten gibt es schon „Foodsaver“. Und jede Woche kommen neue Städte hinzu.

Die Neuen werden von den sogenannten Botschaftern, den aktivsten Mitstreitern des Projekts, eingewiesen. Sie sind für die Koordination und Vernetzung aller Umverteilungsaktivitäten in einem Stadtteil, einem Bezirk oder einer Kommune zuständig.

Bodhi ist einer von ihnen. Rund 30 Stunden verbringt der 26-Jährige jede Woche mit Foodsaving, Seit zwei Jahren ernährt er sich „ausschließlich von gerettetem Essen“, und nur „ganz nebenbei“ betreibt der blonde Vollbartträger einen Versandhandel, „um die Miete reinzuholen“.

Einige, die heute mit einem ganz offiziellen Ausweis von Foodsharing e.V. ablaufende Lebensmittel einsammeln, haben schon früher weggeworfene Nahrung eingesammelt, des Nachts und unerlaubt. Auch Raphael Fellmer, Mitbegründer von Foodsharing e. V. hat sich und seine Familie jahrelang vom „Containern“ ernährt.

Irgendwann wurden Fellmer die Nacht-und-Nebel-Aktionen zu dumm und er sann nach einem legalen Weg, die Vernichtung noch genießbarer Produkte einzudämmen. Daraus entstand zunächst die Internetplattform foodsharing.de, auf der Privatleute, die etwa in den Urlaub fahren, Lebensmittel zur kostenlosen Abholung anbieten, die sie nicht mehr brauchen. Später kam dann die Kooperation mit Händlern dazu, die froh sind, ihre verderblichen Waren nicht wegwerfen zu müssen.

Carola Benn ist froh über diese Entwicklung. „Beim Containern erwischt zu werden, ist dann doch nicht so toll für den Lebenslauf“, vermutet die Studentin.