ANDREAS FANIZADEH LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Auf eine Artischocke mit Vincent
Feine Lebensart will gut erlernt sein. Habituelles, Konsum- oder Stilfragen sind höchst difizile Angelegenheiten. Liegen wir gerade auf Schweizer Armeedecken (nicht ganz billig bei Manufactum erhältlich) und lesen von der New-York-Times-Bestseller-Liste Malcolm Gladwells „Outliers. Why some people succeed – it has to do with luck and opportunities as well as talent“? Blättern wir gerade in SZ- und Zeit-Magazinen, die im frühen Juni „Reh mit Latschenkiefer“ (von Elisabeth Raether) oder Pfifferlingssuppe (von Anna Schwarzmann) zum Nachkochen anpreisen?
Oder lesen wir lieber im Vorwort von Vincent Klinks Buch „Immer dem Bauch nach“ (Rowohlt, 2011): „Es gibt Leute, die ein solch geruhsames Berufsleben führen, dass sie im Urlaub den Amazonas hinaufschnorcheln müssen“, und amüsieren uns darüber? Klink erzählt mit Leidenschaft und Verstand von seinen kulinarischen Reisen. In „Vincent der Seefahrer lernt ein neues Artischockenrezept kennen“ paddelt er in seinem „Indianerkanu“ durch Venedig. Von der Wasserpolizei vertrieben landet er schließlich auf der Insel Poveglia an. Dort will er auf einer Industriebrache übernachten und trifft – quasi die Latschenkiefer – einen alten Mann, Typ Selbstversorger.
„Zwei Artischocken hatte der Opa bereits in Aluminiumfolie eingewickelt“ und im Feuerchen versenkt, die Früchte vom nahen Feld geschnitten. Klink leistet ihm Gesellschaft. Sie speisen von Plastiktüten und aus alten Blechdosen. „Der Artischockenkoch hatte seine Sache gut gemacht“, so Klink, „denn alle Zutaten waren von erster Güte.“
Doch, wo finden Zeit-Leser im Juni frisches wildes Reh, den zum Abschuss freigegebenen Maibock etwa? Wo SZ-Leser den heimischen Pfifferling? Vorn dabei, regional die erste Qual.
■ Der Autor leitet das Kulturressort der taz Foto: privat